Die Mobilmachung ist nicht zu Ende - Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 12.2.2023 – 18.2.2023

Selbstmord eines Wehrpflichtigen

Sergej Grindin, Wehrpflichtiger aus Komi (Nordwestrussland) beging am 10. Februar Selbstmord. Am 14. Februar tauchte ein Abschiedsbrief auf, in dem Grindin berichtet, wie er versuchte, von dem Kommandeur seiner Einheit die Erlaubnis zu erbitten, nicht in die Ukraine zu müssen. Danach hätten Kommandeur und Unteroffiziere „mit ihren Schmähungen nicht mehr von ihm abgelassen.“

Grindin schreibt, er könne nicht alle „Erniedrigungen“, die „diese Tiere“ ihm angetan hätten, erzählen, hoffe aber, dass man sie dafür einsperre, einen Menschen in den Selbstmord getrieben zu haben. „Ich habe die Entscheidung getroffen, hier in der Heimat zu sterben, ohne fremdes Blut an den Händen.“

Strafrechtliche Verfolgung

In Barnaul (Sibirien) wurde die Journalistin Marija Ponomarenko zu sechs Jahren Lagerhaft wegen „Verbreitung von Falschmeldungen“ über die Armee [Art. 207.3 StGB RF] sowie zu fünf Jahren Verbot ihrer journalistischen Tätigkeit verurteilt. Marija war im April für einen Post bei Telegram über die Getöteten in Mariupol festgenommen worden.

In Orjol (Zentralrussland) wurde der Dichter und ehemalige Lehrer Aleksandr Byvschev wegen Anti-Kriegsgedichten und Posts über die Ukraine verhaftet. Anfang Februar war ein Verfahren gegen den Dichter eingeleitet worden wegen „Aufrufs zum Terrorismus“ [Art. 205.2 Teil 2 StGB RF].

In Pensa (Föderationskreis Wolga) wurde ein Verfahren gegen Nikolaj Guzenovitsch eingeleitet, ihm wird „Diskreditierung der Armee“ [Art. 280.3 Teil 1 StGB RF] vorgeworfen, weil er Anti-Kriegsposts im Sozialen Netzwerk „Odnoklassniki“ [Klassenkameraden; Anm. Übers.] gelikt hatte. Zuvor war er bereits wegen einer Einzelkundgebung gegen den Krieg zu 30 000 Rubel (ca. zwei monatliche Mindestlöhne) Geldstrafe verurteilt worden.

Ordnungsstrafverfahren und Geldstrafen

Am 18. Februar verhängte ein Gericht in Astrachan (Wolgaregion) eine Strafe von 30 000 Rubel und fünf Tagen Haft gegen Jaroslav Savin wegen „Diskreditierung der Armee“ [20.3.3 Ordnungsstrafrecht RF] und „geringfügigen Rowdytums“ [Art. 20.1 Teil 2 Ordnungsstrafrecht RF]. Einen Tag zuvor hatte man ihn wegen eines Emojis mit ukrainischer Flagge in seinem Telegram-Kanal festgenommen.

Eine Bewohnerin der Stadt Tver (Zentralrussland) wurde wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ [Art. 20.3.3 Verwaltungsstrafrecht RF] zu 30.000 Rubel Geldstrafe verurteilt, weil sie Blumen an einem Mahnmal für die Getöteten im ukrainischen Dnipro niedergelegt hatte.

 

 

Ein Bewohner der Region Krasnodar wurde zu einer Geldstrafe in Höhe von 45 000 Rubel (ca. 3 monatliche Mindestlöhne) verurteilt, weil er bei „Odnoklassniki“ ein Video mit einem Text auf Ukrainisch gepostet hatte, der die Russische Armee „diskreditieren“ soll.

Gegen den Studenten der Hochschule für Seefahrt in Sachalin (Ferner Osten) Anatolij K. wurde ein Protokoll wegen „Diskreditierung der Armee“ [Art. 20.3.3 Ordnungsstrafrecht RF] aufgenommen. Anatolij hatte seinem Dozenten erklärt, er wolle nicht in einem Land leben, dass an der Ermordung friedlicher Zivilisten in der Ukraine und an einem Besatzungskrieg beteiligt sei. Das wurde der Polizei gemeldet. Die Sicherheitskräfte beschlagnahmten ein Heft mit einer Aufschrift zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte. Dem Studenten droht eine Geldstrafe von bis zu 50 000 Rubel (ca. 3 monatliche Mindestlöhne).

Ein Gericht in Novorossiysk (Südrussland) verhängte eine Geldstrafe von 40.000 Rubel (zweieinhalb monatliche Mindestlöhne) gegen Stepan Kosolapov wegen „Diskreditierung der Armee“ [Art. 20.3.3. Teil 1 Ordnungsstrafrecht RF], weil er eine Einzelkundgebung gegen den Krieg abgehalten hatte. Als Beweismittel vor Gericht dienten ein Foto von ihm aus dem Internet mit übermaltem Gesicht und Kosolapovs Erklärung, die er unter Androhung körperlicher Gewalt abgegeben hatte.

 

 

Ilgaz Iskandarov aus Sotschi (Südrussland) wurde wegen mehrerer Anti-Kriegskommentare bei VKontakte zu 30.000 Rubel Geldstrafe (ca. 2 monatliche Mindestlöhne) verurteilt. In einem Kommentar heißt es, die russische Armee bombardiere Kyjiv, vernichte ukrainische Zivilisten und der Leiter der Gruppe Wagner Prigozhin sei ein Verbrecher. In einem anderen Kommentar wird die Losung „Nein zum Krieg“ verwendet.

In Moskau stellte Maksim Lypkan beim Bürgermeisteramt einen Antrag zur Durchführung einer Kundgebung am 24. Februar unter dem Motto „Das Jahr der Hölle“. Nachdem dies abgelehnt wurde, nahm man ihn am Tag darauf am Bahnhof fest und es wurden zwei Protokolle gegen ihn aufgenommen, eines wegen „Diskreditierung der Armee“ [Art. 20.3.3 Ordnungsstrafrecht RF], das andere wegen „Organisation einer nicht-genehmigten Aktion“ [Art. 20.2 Teil 2 Ordnungsstrafrecht RF].

Im Gebiet Magadan (Ferner Osten) wurde Anna Prosvirina zu einer Strafe in Höhe von 30 00 Rubel verurteilt. Prosvirina hatte am 27. September an Türgriff und Fenstergitter der örtlichen Staatsanwaltschaft Bänder gehängt mit den Worten „Am 24. Februar wurde Russland getötet“, „Nein zum Putin-Regime“, „Putin und seine Freunde vor's Gericht“ und „Stoppt den russischen Faschismus.“

Im Gebiet Tula (Zentralrussland) wurde DJ Flagman“, mit bürgerlichem Namen Vasilev, zu 40.000 Rubel (ca. zweieinhalb monatliche Mindestlöhne) verurteilt. Nach Angaben des Gerichts ließ er während der Neujahrsansprache Putins in Anwesenheit einer Vielzahl von Gästen den Titel einer ukrainischen Gruppe laufen.

In Nizhnij Novgorod (Föderationskreis Wolga) wurde dem Schlosser Vladimir Kiselev bei seiner Arbeitsstelle, der Flugzeugfabrik „Sokol“, gekündigt. Kiselev hatte eine Geldstrafe erhalten, nachdem er Flugblätter, in denen der Krieg propagiert wurde, zerrissen hatte. Außerdem wurde er als „unerwünschte Person“ auf eine „schwarze Liste der Unternehmen Nizhnij Novgorods“ gesetzt.

Künstler gegen den Krieg

Aleksej Kortnev, Bandleader von „Neschtschastnyj Slutschaj“ [Unglücksfall], wurde in Novosibirsk festgenommen, sein Konzert von Sicherheitskräften unterbrochen. Die Mitglieder der Band „Neschtschastniyj Slutchaj“ verurteilen das Vorgehen des Kremls in der Ukraine kategorisch.

In St. Petersburg wurde das Theaterstück „Ejnschtejn und Margarita“, in dem Ksenija Rappoport und Aleksej Serebrjakov die Hauptrollen spielten, abgesagt. Beide hatten sich zuvor gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen.

In Rostov am Don (Südrussland) sowie in Krasnodar wurden die Konzerte des Komikers Aleksandr Revva, die für den 15. und 16. Februar angesetzt waren, abgesagt. Er hatte sich mehrfach gegen den Krieg ausgesprochen.

In Tula (Zentralrussland) wurden am 14. Februar die Konzerte der Sängerin Klava Koka sowie der Gruppe Louna abgesagt. Auftritte von Louna waren auch in Rjasan und zuvor in Moskau, Jaroslavl, Tver und Udmurtien abgesagt worden. Die Gruppe hatte sich nach Beginn der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine gegen den Krieg ausgesprochen.

 

Sichtbarer Protest

Weiterhin errichten Russen spontane Mahnmale zum Gedenken an die friedlichen zivilen Opfer, die bei dem Raketenangriff auf Dnipro ums Leben kamen. Mindestens 108 spontane Mahnmale in 69 Städten Russlands sind bekannt. In dieser Woche entstanden neue – in Tjumen und in Omsk (Sibirien).


Brjansk (Zentralrussland): „Charkiv“, „Nein zum Krieg! Schluss mit dem Töten!“, „Die Ukraine ist nicht unser Feind! Die echten Feinde sind im Kreml.“

 

„Nein zum Krieg!“, „Mehr als 200 Brjansker wurden zu 'Grus 200' [Fracht 200 – gefallene Soldaten]. Das sind mehr als in 10 Jahren Afghanistan-Krieg! STOP WAR“, „Schluss mit den Lügen! Bringt die Soldaten zurück nach Hause. Nein zum Krieg!“, „Wie schlaft ihr, Brjansker? Träumt ihr nicht von toten Kindern?“

 

In Ivanovo verteilen Aktivisten weiterhin Flugblätter gegen die Mobilmachung

„Verbreite Information. Wir brauchen Frieden! Rette Leben auf beiden Seiten der Front“, „Die Mogilmachung ist nicht zu Ende! [Russ. mogilisazija aus mogila: Grab und mobilisazija Mobilmachung] Nicht nötig: die Vorladung entgegennehmen, zum Einberufungsamt gehen. Für Nicht-Erscheinen gibt es nur Geldstrafen. Teile diese Information mit Angehörigen und Freunden“, „Dein Angehöriger zieht in den Krieg, erwarte ihn zuhause zurück in einem Sack. Man holt sie ab im Morgengrauen, zwei Drittel kommen nicht zurück.“

 

In den verschiedensten Städten Russlands wird gegen den Krieg agitiert. Unten Fotografien aus Moskau, Novosibirsk, Ivanovo und Pensa (Föderationskreis Wolga).

„Putin ist ein Mörder“, „Putin ist Terror“, [etwa] „Fick den Krieg“. Moskau


„Happy No War“, „Nieder mit der Regierung, die Soldaten nach Hause.“ Novosibirsk

 


„Nein zum Krieg“, „Schalte den Fernseher aus. Schalte das Gehirn ein“, „Nein zum Krieg.“ Novosibirsk, Ivanovo, Pensa

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

10. März 2023

 

 

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