„Sie haben einen Militärstützpunkt bombardiert. Aber wozu haben sie acht Raketen auf einen Kindergarten abgefeuert?“ Eine Bewohnerin von Okhtyrka über den Tod ihres Sohnes.

Denys Volocha

Ljubov und Vasyl Maxymtschuk arbeiteten in der Erdölförderung in Ochtyrka, wie auch ihr 41-jähriger Sohn Maxym. Am 25. Februar half er, den Kindergarten als Unterschlupf für Zivilisten vorzubereiten. Die Russen beschossen Militärobjekte im Umkreis von einem Kilometer, was eine starke Zerstörung von Wohnhäusern verursachte. Im Kindergarten „Liebe Sonne“ kamen nach Angaben von Augenzeugen an diesem Tag vier Menschen ums Leben.

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe dokumentierte die Ereignisse in Ochtyrka und wird dem Internationalen Strafgerichtshof und anderen Organen Beweise für Kriegsverbrechen vorlegen. Die Opfer erhalten humanitäre und juristische Hilfe.

Am 25. Februar bombardierten sie Ochtyrka. Besonders den Militärstützpunkt im Bezirk „Datschnyj“. Sie bombardierten den Kindergarten in der Nähe, wo sich Zivilisten befanden. Heute ist es acht Monate her, dass sie unseren Sohn getötet haben. Wofür? Wir lebten, wussten von nichts, unser Sohn ging arbeiten. Jetzt sind seine Söhne Waisen. Es gibt keine Worte, um zu beschreiben, was für einen Kummer uns diese Orks gebracht haben. 

Video auf youtube: https://youtu.be/z02049iu5p0 

Was ist eigentlich passiert? Wie genau ist Ihr Sohn umgekommen? 

Sie bombardierten den Militärstützpunkt und die Umgebung. Möglich, dass sie absichtlich acht Raketen auf den Kindergarten abgefeuert haben. Vielleicht war es gezielt. Ich weiß es nicht. Ich verstehe, der Militärstützpunkt: Dort waren Soldaten. Aber der Kindergarten – das sind doch Zivilisten. Die Kinder hatten sich dort versteckt. Sie hatten meinen Sohn gebeten, aus dem Kindergarten Stühle in den Luftschutzbunker zu bringen, damit die Kinder sich hinsetzen können. Und sie haben alles zerbombt. Über die Stadt flogen Flugzeuge, unser Haus wurde zerbombt. 

 

Vasyl and Ljubov Maxymtschuk vor dem zerstörten Gebäude des Stadtrats von Ochtyrka, acht Monate nach dem Tod ihres Sohnes. © Denys Volocha

 

Hat es Ihren Sohn getroffen, als er die Stühle holte? 

Er holte die Stühle für die Kinder, die Rakete schlug ein, verletzte ihn. Es traf die Oberschenkelarterie. Mein Sohn Maxym und Natascha, die Wachfrau, die den Luftschutzbunker öffnete, waren auf der Stelle tot, zwei weitere Personen starben dann im Krankenhaus. Es gab auch Verletzte dort – ebenfalls Männer, die Stühle in den Luftschutzbunker getragen hatten. Sie wurden verletzt, aber die, die am Rand standen wurden getötet. So war das. 

Sind Sie danach ins Krankenhaus gefahren, um Ihren Sohn zu suchen? 

Wir konnten nicht fahren, weil wir beschossen wurden. 

Aber am Ende konnten Sie hinfahren? 

Nein, unser jüngerer Sohn lief auf eigene Gefahr los. Er lief zum Kindergarten, aber der Rettungswagen hatte Maxym schon ins Krankenhaus gebracht. Er fand seinen Bruder im Leichenschauhaus. Am selben Tag, zwei Stunden später. Der Beschuss hörte nicht auf: Sie schossen, ruhten sich zwanzig Minuten aus und schossen wieder. Deswegen konnten wir ihn nicht gleich aus dem Leichenschauhaus holen und beerdigten ihn erst am dritten Tag.

 

Kindergarten, wo Maxym vermutlich ums Leben kam. Foto: Denys Volocha

 

Wie war die Lage in der Leichenschauhalle? Waren viele Menschen dort? 

Im Leichenschauhaus waren viele Menschen, vor allem von der Militäreinheit. Ein Vater brachte seinen Sohn, er war ohne Kopf. Nur an der Tätowierung konnte er ihn identifizieren. Es waren sehr viel Soldaten dort: erschossen, verbrannt, verkohlt. Sie sagten, man muss DNA zur Identifizierung entnehmen. Ich sage ja: Das waren Soldaten. Aber Zivilisten? Wozu haben Sie Raketen auf einen Kindergarten abgefeuert? 

Ist der Kindergarten weit weg vom Militärstützpunkt? 

Ungefähr fünfhundert Meter. 

Und ging der Raketenbeschuss in dieser Gegend im Laufe der Woche weiter? 

 

Ochtyrka nach einem Angriff, links im Hintergrund ein Museum. Foto: Denys Volocha

 

Ja, wir kamen aus dem Keller nicht mehr heraus. Sie schossen jeden Tag, dauernd kamen Flugzeuge. Es war unerträglich. 

Aber sie zerbombten den Militärstützpunkt doch am ersten Tag, wenn ich richtig verstanden habe? 

Nein, sie bombardierten ihn drei Tage! Da gab es kein Leben mehr, alles war zerstört. Es war ein guter Militärstützpunkt, ein großer, aber sie haben alles zerbombt. Die Soldaten waren von Platten bedeckt. Unsere Kinder. Alles unsere Kinder, ob 20 oder 40 Jahre alt. 

Wie alt war Ihr Sohn? 

Er war 41, arbeitete in der Erdölförderung bei „Ochtyrkanaftohaz“ als Bohrhelfer. Zuerst arbeitete er als Koch, dann als Bohrhelfer. Wir hatten ein gutes Verhältnis. Er war ein Goldjunge. Einen solchen Sohn, wie wir ihn hatten, möchte man allen Müttern wünschen. Wir können es nicht fassen, dass er nicht mehr da ist. 

Hatte er Kinder? 

Er hat einen vierzehnjährigen Sohn aus erster Ehe, Arturtschyk. Und Iurchtschyk, er ist acht. Der Sohn aus erster Ehe ist mit seiner Mutter nach Deutschland geflohen. Er rief an, sagte: „Papi.“ Und sein Großvater hat geantwortet: „Kein Papi.“ „Wie, kein Papi? Wir haben uns doch gestern zusammen im Wald versteckt.“ „Er ist tot, so ist es.“ Und so sind die Kinder zu Waisen geworden. 

Und Ihr Haus? Wie wohnen Sie jetzt darin? 

Wir wohnen da, reparieren es, setzen Fenster ein. Alles mit unserem Geld. Aber was sollen wir tun? Der Winter ist da. Es ist kalt. 

 

Bezirk Datschnyj in Ochyrtka

 

Was empfinden Sie jetzt gegenüber den Russen? Wie erklären Sie ihnen das?  

Ja, wie. Ich habe Verwandte dort, aber wir haben keinen Kontakt. Sie sagen doch, dass wir diejenigen sind, die bombardieren. Meine Schwester lebt allein in Brjansk, sie hält zu uns, zur Ukraine. Ein Klassenkamerad aus meinem Dorf, er wohnte auf der anderen Straßenseite, ist jetzt in Petersburg und hat gefragt: „Und, habt ihr viele Witwen?“ Mein Mann hat gesagt: „Das war's, reden wir nicht mehr mit ihnen.“ Natürlich haben wir viele Witwen. Natasha, unsere Schwiegertochter, ist Witwe. Was soll sie denn jetzt machen, mit ihrem Söhnchen? Arbeiten geht nicht, weil sie ihn zur Schule bringen und alles andere machen muss. Und von was sollen sie denn jetzt leben? 

Wie lebt es sich jetzt in Ochtyrka? Verhältnismäßig ruhig? 

Relativ ruhig. Es gibt Luftalarm. Die Geschäfte und alles andere schließen, wenn die Sirenen anfangen zu heulen. Also es geht, irgendwie. Aber es gibt viele Explosionen in der Nähe, von uns ist ja Velyka Pysarivka nicht weit, das ist an der Grenze, wir hören sie gut und machen uns große Sorgen.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Ein Video-Interview mit Ljubov Maxymtschuk finden Sie hier.

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

20. Februar 2023

 

 

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