Am 17. Oktober hielt Tatjana Gluschkova, Juristin des Zentrums zum Schutz der Menschenrechte Memorial, vor dem UN-Menschenrechtsausschuss eine Rede zur politischen Verfolgung in Russland, unter anderem wegen ablehnender Haltung gegen den Angriffskrieg in der Ukraine. Dabei forderte sie den Ausschuss auf, diese Praxis zu verurteilen. Nachstehend die Rede in Übersetzung.

 

Sehr geehrte Frau Vorsitzende, sehr geehrte Mitglieder des Ausschusses, 

die Zahl der politischen Gefangenen in Russland wächst seit 2009 kontinuierlich und liegt zum jetzigen Zeitpunkt bei 496 Personen. Das sind 18 Personen mehr als am 12. September, der Tag, an dem wir dem Ausschuss unseren letzten Bericht vorgelegt haben. Davon entzog man 121 Menschen die Freiheit aus rein politischen Motiven, 375 Personen in Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Rechts auf Religionsfreiheit des Glaubensbekenntnisses und der Religionszugehörigkeit

 

Das wichtigste Ziel der politischen Verfolgung in Russland kann als Kontrolle über die Gesellschaft charakterisiert werden und nicht als Freiheitsentzug jedes Andersdenkenden. Aus diesem Grund trägt die Verfolgung einen selektiven Charakter, sind die angewandten Gesetze äußerst schwammig und werden die Opfer häufig nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Diese Strategie schafft in der Gesellschaft effektiv eine Atmosphäre der Angst.

Wie die Vorredner bereits gesagt haben, wurde in diesem Jahr die Tendenz sichtbar, die Anti-Kriegsbewegung in jeglicher Form zu unterdrücken. Bisher wurden 32 Personen inhaftiert auf der Grundlage neuer Paragraphen des Strafgesetzbuchs [Art. 207.3 u. Art. 280.3 StGB RF], die kriegsfeindliche Äußerungen und Erklärungen zu Tatsachen kriminalisieren, - Handlungen der russischen Streitkräfte in der Ukraine betreffend - welche offiziell vom Verteidigungsministerium Russlands nicht bestätigt wurden. 

Angesichts des bewaffneten Konflikts in der Ukraine ist mit einer baldigen massenhaften strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsgefangenen und in der Ukraine illegal festgenommenen Zivilisten zu rechnen – unter der falschen Anschuldigung, Kriegsverbrechen begangen und sich an terroristischen Organisationen und illegalen bewaffneten Gruppierungen beteiligt zu haben. Darüber hinaus erwarten wir eine Zunahme an fabrizierten Verfahren wegen Sabotage, Spionage und Staatsverrat. In Anbetracht der vor kurzem verkündeten Mobilmachung erwarten wir ebenfalls ein Anwachsen der Fälle, die damit zusammenhängen, dass Menschen ihr Recht wahrnehmen, den Kriegsdienst im bewaffneten Konflikt mit der Ukraine aus Gewissensgründen zu verweigern.

Insgesamt werden zur politischen Verfolgung, die auf die Unterdrückung der Versammlungs-, Vereinigungs-, Rede- und Gewissensfreiheit abzielen, etwa 50 unterschiedliche Paragraphen des Strafgesetzbuches angewendet.

Ein Beispiel für ein politisch motiviertes Verfahren ist das sogenannte „Verfahren der Opposition Inguschetiens“. Eingeleitet wurde es 2019 nach den zahlreichen Protesten gegen die Vereinbarung zur Änderung der administrativen Grenze zwischen Inguschetien und der Republik Tschetschenien.

Sieben Personen, die unter den Demonstrationsteilnehmern aufgrund ihres öffentlichen Einflusses in Inguschetien herausgegriffen wurden, stufte man ein als Mitglieder einer „organisierten Gruppe von Personen zur Vorbereitung oder Begehung einer extremistischen Straftat“ und verurteilte sie wegen Gründung einer extremistischen Organisation oder Teilnahme an einer solchen sowie wegen der Organisation lebensgefährlicher Gewalt gegen Vertreter der Behörden. Und das, obwohl genau diese Leute die Eskalation der Gewalt während der Proteste gestoppt hatten.

Wie so oft im heutigen Russland breitete sich diese repressive Praxis, erstmals angewendet im Nordkaukaus, schnell im ganzen Land aus.

Zum heutigen Tag kann die Praxis, Führer und Organisatoren friedlicher Proteste zu Extremisten zu erklären und Strafverfahren gegen sie einzuleiten, als fest etabliert gelten. Davon zeugt das Verfahren gegen den „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“, der 2021 nach den Massenprotesten gegen die Festnahme Aleksej Navalnyjs zur extremistischen Organisation erklärt wurde sowie der gerade erst begonnene Prozess gegen die demokratische Jugendbewegung „Vesna“ (Frühling). Die Staatsanwaltschaft stellte den Antrag, die Bewegung zu einer extremistischen zu erklären, am 30. September dieses Jahres, nachdem „Vesna“ zu Anti-Kriegsdemonstrationen aufgerufen hatte.

Wir sind der festen Überzeugung, dass der Ausschuss in den abschließenden Erläuterungen nach der Prüfung des 8. Periodischen Berichts der Russischen Föderation die Praxis der Strafverfolgung aus politischen Motiven als Form der Bestrafung bei der Realisierung von Grundrechten verurteilen muss, so wie es der Pakt [Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte] vorsieht.

17. Oktober 2022

 

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