Die Liquidierung von Memorial International, der größten und ältesten zivilgesellschaftlichen Organisation Russland, kurz vor dem Beginn des Kriegs wird nun in neuem Licht wahrgenommen. Die Mitarbeiter von Memorial glauben, dass einer der Gründe für die Liquidation das Anliegen der Behörden war, mögliche Antikriegsproteste zu unterdrücken. Darüber und über weitere Gründe spricht Irina Scherbakova in einem Interview mit Olga Orlova. Wir bringen es leicht gekürzt. 

Gerade erst ist in Stuttgart der 57. Theodor-Heuss-Preis für den Beitrag zur zivilgesellschaftlichen Entwicklung an Memorial verliehen worden. Auf Ihrer Webseite allerdings ist zu lesen: „Gemäß Beschluss des Obersten Gerichts der RF vom 28. Februar 2022 wurde die Organisation liquidiert.“ Von der ersten Hausdurchsuchung am 15. Oktober 2021 bis zur Schließung vergingen insgesamt nur vier Monate. Eine unglaubliche Geschwindigkeit für eine Sache von solcher Resonanz. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der schnellen Schließung und dem Beginn des Krieges? 

Natürlich. Nur haben wir das erst im Nachhinein verstanden. Die Situation um Memorial hat sich Schritt für Schritt verschlechtert und wir dachten nicht, dass es sofort zur Liquidierung kommen würde. Sicher, es hatte kurz zuvor ein Ereignis gegeben, dass sich von früheren Skandalen und Angriffen unterschied. Da war der mit Hilfe von NTV inszenierte Überfall, als im Oktober 2021 während der Filmvorführung von Agnieszka Hollands „Golod“ [Hunger] in unseren Saal nicht etwa Freaks der Nationalen Befreiungsbewegung Russlands eindrangen, sondern vierzig junge Leute in Schwarz mit vermummten Gesichtern. Wir schauen also den Film an, auf der Straße stehen NTV-Mitarbeiter, die zunächst diejenigen filmten, die zur Vorführung kamen, und dann, wie später klar wurde, auf diese jungen Typen warteten. Einer von ihnen muss wohl zuvor als Zuschauer getarnt in den Saal eingedrungen sein und die Tür geöffnet haben. Und danach stürmten diese Kämpfer auf die Bühne, versperrten die Leinwand und skandierten: „Hände hinter den Kopf! Schnauzen auf den Boden!“ Es entstand sofort eine Assoziation mit 1933 in Deutschland, als bei Aufführungen Sturmtruppen eindrangen und Pogrome veranstalteten. 

Wie hat der Saal reagiert? 

Mein Gott, was für ein Publikum sitzt denn da bei Veranstaltungen von Memorial? Da waren Intellektuelle mittleren Alters, Volontäre und Mitarbeiter. Wir haben natürlich die Polizei gerufen. Aber die kam keineswegs, um uns zu beschützen. Plötzlich wurden wir zu Angeklagten. Bis nachts um zwei ließ man uns nicht aus dem Gebäude heraus und keine Anwälte hinein. Man ließ die Zuschauer nicht gehen. Und an die Türen hängten sie von außen Handschellen, damit niemand hinein konnte. Sie beschlagnahmten die Überwachungskamera am Eingang und Computer. Wir begriffen, dass das alles sehr schlechte Vorzeichen waren. Und trotzdem glaubten wir nicht, dass von der Generalstaatsanwalt gleich die Forderung nach einer Liquidierung kommen würde. 

Zu diesem Zeitpunkt gab es eine große Welle der Unterstützung sowohl in Russland als auch im Ausland. Hätten Sie eine solche Reaktion erwartet? 

Eine derartig breite nicht. Die Menschen haben eine ungewöhnliche Solidarität gezeigt. Buchstäblich auf der ganzen Welt schrieben eine riesige Zahl Organisationen, Universitäten, Museen und Medien Briefe der Unterstützung, standen gegen unsere Schließung Protestierende vor Russischen Botschaften. Unterstützung gab es auch in Russland, so besuchte ein schier endloser Strom von Menschen unsere Ausstellung, die der weiblichen Erinnerung an den GULAG gewidmet war. Lehrer, die am Schülerwettbewerb teilgenommen hatten, schrieben Briefe: „Haltet durch!“ Und während noch unser Prozess lief, wurden die Truppen an der Grenze schon zusammengezogen. Aber wir weigerten uns trotzdem, wie viele andere im Land und auf der Welt, so etwas für möglich zu halten. Unsere Kollegen, vor allem die jungen, hatten noch die Hoffnung, wir könnten uns wehren: Seht doch, was wir für eine Unterstützung bekommen, was für Anwälte wir haben, wie die aufgetreten sind! Es ist unmöglich, uns nicht zu hören. Die Staatsanwälte hatten den nichts entgegenzusetzen. 

Kurz vor Neujahr fand die Sitzung des Obersten Gerichts statt, bei der die Entscheidung über die Liquidierung getroffen wurde, und bei der die Staatsanwaltschaft schon gar nicht mehr davon sprach, dass Memorial International wegen Verletzung des „Ausländischen Agentengesetzes“ liquidiert wird, wie es zu Anfang hieß, sondern es wurde ganz direkt gesagt: „Ihr vermittelt die Vorstellung von einem Terror-Staat. Ihr erzieht die Jugend nicht richtig.“ Und da wurde schon allen klar, dass dies eine politische Entscheidung ist mit einer Formulierung, die uns vernichten soll. 

Was für eine Gefahr hätte Memorial denn im Krieg dargestellt? Sie haben ja drei Tätigkeitsbereiche: Der erste ist die historische Forschung, Archive und Dokumente, der zweite Aufklärung und Bildung, der dritte die Menschenrechtsarbeit. Was genau hat Memorial das Genick gebrochen? 

Die Tatsache, dass Memorial in erster Linie ein Netz ist. Ein Netzwerk, das der Staat nicht kontrollieren kann und das aus einer Vielzahl von Organisationen innerhalb Russlands besteht, in Perm, Jekaterinburg, in Syktyvkar … . Ein Netz, Verbindungen, Menschen, funktionierende Strukturen – dies alles musste vor Beginn des Krieges vernichtet werden. 

Das heißt, es sollte bei Kriegsbeginn keine funktionierenden Strukturen geben? 

Ja. Es musste unbedingt eine Säuberung des Feldes durchgeführt werden, um möglichen Antikriegsprotest zu unterdrücken. Der zweite Grund sind sehr breite internationale Verbindungen mit öffentlichen Organisationen, einschließlich internationaler. Und das lieferte Argumente: Schaut, wessen Agenten sie sind. Die dritte wichtige Sache ist die Jugendarbeit. Ich hätte nie geglaubt, dass eine Zeit anbricht, in der unsere Bildungsprojekte mit Schülern von der Regierung als ernsthafte Bedrohung aufgefasst wird. Und die Liquidierung von Memorial ist natürlich auch eine Einschüchterung des aktiven Teils der Gesellschaft, jener zweihunderttausend Menschen, die die Petition zu unserer Unterstützung unterschrieben haben. Es ist auch ein Signal an alle kleinen Organisationen, die noch irgendwie versucht haben zu kämpfen. 

Wenn schon Memorial mit seinen Anwälten und internationaler Unterstützung nichts ausrichten konnte, worauf soll man denn dann noch hoffen? 

Tja, genau so. Eine Rolle spielt auch die ungeheuer große Zahl an Mitarbeitern in den Sicherheitsstrukturen. Alle diese FSBler und Mitarbeiter des „Extremismus“-Zentrums müssen ihre Effektivität beweisen. Und das ist viel einfacher zu erreichen, wenn man das Netzwerk von Memorial und seine Schülerwettbewerbe verfolgt. Und diese unglaublichen Fehlschläge bei der Planung der „Spezialoperation“ in der Ukraine, das völlige Missverstehen, was für ein Land die Ukraine geworden ist, das ist ein weiteres Zeichen von Unprofessionalität. Man muss sich nur einmal vorstellen, welche Mittel für den Kampf gegen uns und für die Unterdrückung jeglichen Protests ausgegeben werden. 

Kommen wir noch einmal darauf zurück, wie sehr die Regierung Ihre Arbeit mit der Jugend fürchtet. Vor zwei Jahren gab es in aller Eile Änderungen im Bildungsgesetz, die aufklärerische Tätigkeiten, internationale Kontakte auf dem Gebiet der Wissenschaft und Bildung erschwert oder gar zunichte gemacht haben. War Ihnen gleich klar, dass diese Änderungen vor allem dafür erdacht wurden, um Memorial von den Schulen fernzuhalten? 

In gewissem Maße ja. Es ist erstaunlich, welche Bedeutung unserem Schülerwettbewerb beigemessen wurde. Wie viele Anstrengungen von Seiten der Sicherheitsstrukturen unternommen wurden, denjenigen Angst einzujagen, die dort teilnahmen – Schülern, Lehrern, Eltern. Wie viele Provokationen es gab. 2016 kamen Vertreter von 20 europäischen Geschichtswettbewerben zur Preisverleihung, aus Norwegen, Frankreich, Deutschland, Spanien, Polen usw. Und auf dem Weg zur Preisverleihung, die im Haus des Kinos stattfand, wurden wir unter den Schreien der Nationalen Befreiungsbewegung Russlands und anderer „Patrioten“ mit grüner Farbe bespritzt, auch die Vorsitzende der Jury Ludmila Ulizkaja und viele andere. Obwohl wir dachten: Bei etwa zweitausend Schülern, die uns jährlich ihre Arbeiten zum Thema „Der Mensch in der Geschichte“ zusenden, wie kann davon eine Gefahr ausgehen?? 

Und wie erklären Sie das selbst? 

Ich glaube, das war die Angst und Unsicherheit über die Wirksamkeit der eigenen Propaganda, die sich an die jungen Menschen richtete. Die Propagandisten glaubten in geringerem Maße an sich selbst, als die Bevölkerung dies tat. So traurig es ist. Das ist in der Tat ein schreckliches Paradoxon, dass die Angst und die Lügen, die sie säen, besser funktionieren als sie das selbst erwartet hätten. 

Gerade beeilt sich „Einiges Russland“ ein Projekt zur historischen Erziehung von Schulkindern zu starten, es usurpiert damit Ihr Projekt. Worin liegt der prinzipielle Unterschied zwischen deren Jugendarbeit und Ihrer? 

Der prinzipielle Unterschied besteht darin, dass sie schon mit einer fertigen Ideologie in die Schulen kommen. Und diese Ideologie ist zusammengewoben aus Nationalstolz, falschem Patriotismus und Hass auf den „Feind“, indem man sich auf historische Mythen stützt. Wir haben uns von Anfang an am Schicksal konkreter Menschen und ihrem Platz in der Geschichte orientiert. Das war das Ziel von Memorial, das Andrej Sacharov 1988 formuliert hat: „Unsere Aufgabe ist es, jedes Schicksal zu erreichen.“ Als ich zu Memorial kam, um den Schülerwettbewerb zu organisieren, dachte ich, man müsste nicht gleich zu Anfang verkünden, dass die Schüler über die Repressionen schreiben sollen. Uns war wichtig, dass die Heranwachsenden versuchten, das frühere Leben ihrer Familien zu verstehen und zu beschreiben. Sie sollten ohne vorgegebenen Rahmen Quellen finden - schriftliche und mündliche - und von diesen ausgehen. Und dass sie selber verstehen, was für ein Leben das war in unserem Land. Und selbstverständlich wurden sie nicht indoktriniert. 

Es gab zum Beispiel bei einem der ersten Wettbewerbe einen fünfzehnjährigen Preisträger, der damals, vor 22 Jahren eine großartige Untersuchung über die Geschichte des Simonov Klosters verfasste, ein verwunschener Ort in Moskau, den jeder zerstört hatte, dem es einfiel. Und diese Zerstörung führte er auf eine Verschwörung nicht-russischer Kräfte zurück. Ich weiß noch, wie wir in der Jury stritten, was zu tun sei. Er hatte großartige Arbeit geleistet, aber seine Schlussfolgerungen waren mit Memorial unvereinbar. Trotzdem entschieden wir, ihn auszuzeichnen, sagten ihm aber, dass wir mit ihm nicht übereinstimmen. Und als er fünfzehn Jahre später vor neuen Siegern des Wettbewerbs auftrat, erzählte der ihnen die Geschichte seines eigenen Irrtums. Und darauf kommt es an. Heute versucht die Regierung, zu den Kindern zu gehen und zu sagen: „Der Krieg war so und die Geschichte unseres Landes so.“ Wir haben genau entgegengesetzt gehandelt. 

Was denken Sie, wird die gegenwärtige Propaganda der Indoktrination mit der „richtigen“ Geschichte Erfolg haben bei der ganzen modernen Informationstechnologie? Es sind immerhin nicht mehr die Sowjetzeiten mit dem Samisdat in kleinen Auflagen und gelegentlichen „Stimmen“ ausländischer Radiostationen mit Störsendern. 

Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten wie man manchmal denkt. Früher dachten wir: „Nein, das schaffen die nicht.“ Weil die Welt offen ist und es mit dem Internet unmöglich ist, Informationen zu kontrollieren. Aber leider hat sich gezeigt, dass dies nicht so ist. Das ist eine der schlimmsten Schlussfolgerungen und Enttäuschungen unserer Epoche. Ich erinnere mich, wie Arsenij Roginskij, der Vorsitzende von Memorial, 2016 als Memorial International zum ausländischen Agenten erklärt wurde, mit Bitterkeit sagte: „Wir haben in der Sache der historischen Aufklärung verloren.“ Denn wir sahen uns immer noch als Fortsetzer der Tradition der Bildung des Volkes, der Idee, dass, wenn man das Volk aufklärt, es verstehen wird, wo die Wahrheit liegt. Aber alles hat sich als viel komplizierter herausgestellt... . 

Was ist der Grund für diese tragische Niederlage?

 So seltsam das sein mag, zum Teil liegt es an der postsowjetischen Kultur. Zu Sowjetzeiten nach dem Tod Stalins, selbst in Zeiten der strengsten Zensur, hatte die Kultur in ihren besten Beispielen immer noch einen humanistischen Charakter. Wenn man sich weniger bedeutende Kinofilme und Literatur dieser Jahre anschaut, dann waren die Ideen, die man der Gesellschaft vermittelte, in der Regel weder aggressiv noch menschenfeindlich. Und der Mensch sollte gut sein und uneigennützig. Hätte es dieses allgemeine Pathos einer humanen Gesellschaft nicht gegeben, wäre die Perestrojka nicht möglich gewesen, da bin ich mir sicher. Aber das, was dann begann, und zwar sehr intensiv schon in den Nuller-Jahren, war etwas ganz anderes. Alle Interessen konzentrierten sich auf unterschiedliche Konsumniveaus, und die Gesellschaft wurde zunehmend abweisend und misstrauisch gegenüber Fremden. Es war wie die Erregung einer Aggression, vergleichbar mit dem Tonfall der Nazis. Diese Hysterie, die Skandale und diese Sublimierung gab es in der Breschnew-Zeit überhaupt nicht. Vor diesem allgemeinen aggressiven Hintergrund heute lässt sich schnell suggerieren: „Um uns herum sind Feinde. Und unter uns auch. Schaut euch nur die Fratzen an. Und überhaupt, vielleicht sollten wir auf sie schießen, wenigstens virtuell.“ Ich denke, dass dieser echte Hass, der direkt aus dem Äther kam, funktioniert hat. 

Eines der Hauptziele Memorials bei seiner Gründung war die Verhinderung einer Rückkehr des Totalitarismus. Die Aufgabe wurde nicht erfüllt, hat es eine Rückkehr zum Totalitarismus gegeben? 

Das ist tatsächlich passiert. Mir scheint, dass die meisten Menschen sehr schnell Angst haben, daher kommen Anpassung und Verdrängung. Alle Diktatoren wissen das ganz genau. Deshalb schaffen sie einen derart gewaltigen Apparat der Gewalt und Unterdrückung. Ich erinnere mich an einen der letzten Auftritte von Boris Dubin (Soziologe, Philologe und Übersetzer, 1946-2014) im Sommer 2014. Er sagte damals, dass unsere Gesellschaft schwer krank ist und wir alle einen furchtbaren Preis dafür zahlen werden, was gerade in der Ukraine vor sich geht. Und der Grund dafür ist offenbar, dass wir die Freiheit in den 90er Jahren zu leicht bekommen haben. 

Und deshalb schätzte man sie nicht besonders? 

Ja. 

Und die Diagnose? Imperialer Hochmut? 

Nicht einmal mehr Hochmut, sondern eine bequeme Kanalisierung der eigenen Ressentiments. Die Entschuldigung für alles, was wir nicht gemacht haben, nicht bei uns suchen, sondern bei den Feinden. Der Weg heraus aus dieser Krankheit wird, wie Dubin gesagt hat, sehr mühselig sein. Die nächsten Generationen werden einen ungeheuren Preis dafür zahlen müssen. Und die Ereignisse der letzten Monate haben das bestätigt...

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


Mai 2022

 

 

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