Menschenrechtsgruppen und Aktivisten veröffentlichen gemeinsame Erklärung zum Gesetzentwurf über Folter

Nachfolgend die Erklärung (leicht gekürzt)

Russische Menschenrechtsorganisationen begrüßen die Bemühungen der russischen Gesetzgeber zur Einführung einer gesetzlichen Haftung für Anwendung von Folter, halten die Änderungsvorschläge im Strafgesetzbuch der Russischen Föderation (StGB RF) jedoch für misslungen. Das Gesetzesprojekt in dieser Form schließt einen selbstständigen Straftatbestand für „Folter“ aus und schlägt stattdessen ein qualifizierendes Merkmal zu den geltenden Paragraphen des StGB „Überschreitung von Dienstbefugnissen“ sowie „Erzwingung von Geständnissen“ vor,. Im Wesentlichen wird die Einführung eines separaten Strafartikels zur „Folter“ in das StGB durch Surrogat-Bestimmungen ersetzt.

Wir sind der Ansicht, dass die Annahme des Gesetzespakets in der vorgeschlagenen Form nicht zu einer Beseitigung der Folter in Russland führen wird und auch nicht dazu, dass alle Schuldigen tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden. (…) „Folter“ würde nicht als selbstständiges Verbrechen behandelt, sondern als höchster Grad der „Überschreitung von Dienstbefugnissen“. Und so wird die Logik suggeriert, es gäbe gewisse Dienstbefugnisse, die das Risiko bergen, in Folter auszuarten. Derartige Befugnisse haben russische Strafverfolgungsbehörden allerdings gar nicht. (…) 

Der neue Gesetzesentwurf sieht vor, diesen aus rechtlicher Sicht paradoxen Ansatz zur verankern, der durch das Fehlen eines separaten Paragraphen zur „Folter“ im Strafgesetzbuch verursacht wird. Außerdem macht er es unmöglich, den „Gruppencharakter“ bei Foltern oder „vorherige Absprache“ dabei zu berücksichtigen. Bekannte Fälle von Folter zeugen gerade davon, dass Täter am häufigsten in der Gruppe handeln – nach Absprache und methodisch, mit verteilten Rollen. Der Gesetzesentwurf macht es unmöglich, derartige Straftaten genau zu qualifizieren. 

Die für „Folter“ vorgeschlagene Definition schließt die Verantwortung von Personen aus, mit deren stillschweigendem Einverständnis, Wissen und Duldung Folter begangen wird. Das steht in direktem Widerspruch zur Definition von „Folter“ in Artikel 1 der Antifolterkonvention (Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe), die von der UN-Generalversammlung am 10. Dezember 1984 beschlossen wurde und bedeutet, dass nur die unmittelbaren Täter wegen Folter belangt werden könnten; die Bestimmungen des Gesetzentwurfs würden beispielsweise nicht die Leiter von Einrichtungen betreffen, in denen Menschen systematisch gefoltert werden.

Der Gesetzentwurf 

  • nimmt Folter als eigenständiges Verbrechen aus
  • qualifiziert Folter nicht in Übereinstimmung mit der international anerkannten Definition und entspricht somit nicht den Empfehlungen der internationalen Menschenrechtsgremien, die der Russischen Föderation wiederholt erteilt wurden, insbesondere denen des UN-Ausschuss gegen Folter und des Europarats
  • zählt Folter nicht zu den Verbrechen ohne Verjährungsfrist
  • verzichtet auf die Einführung so wichtiger, die Folter qualifizierender Merkmale wie „Gruppencharakter“ und „Konspiration“
  • gestattet nicht, Leiter von Einrichtungen wie Straflager und Polizeistationen, in denen gefoltert wird, zur Verantwortung zu ziehen
  • lässt keine nachvollziehbaren Statistiken zur Folterfällen zu und vermittelt somit der Gesellschaft und den Machthabern kein vollständiges Bild über die Verbreitung von Folter in Russland. 

Wir sind überzeugt, dass die effektive Bekämpfung der Folter in unserem Land mindestens drei Voraussetzungen erfordert: 

  • eine gesonderte Bestimmung im Strafgesetz der RF, die Folter unter Strafe stellt und keine Verjährung zulässt
  • eine effiziente Anwendung dieser Norm, einschließlich Ermittlungen, die zur Bestimmung von Tätern führen sowie zu gerechten Urteilen
  • eine unabhängige zivile Kontrolle. 

Die erste Voraussetzung hängt vollständig vom Gesetzgeber ab. Wir rufen die Abgeordneten der Staatsduma auf, den Gesetzentwurf Nr. 42307-8 zu prüfen und unbedingt die folgenden erforderlichen Änderungen vorzunehmen: 

  • Aufnahme einer gesonderten Bestimmung über Folter in das StGB der RF in voller Übereinstimmung mit der Definition von Folter in Artikel 1 des UN-Abkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
  • Gewährleistung von dringend erforderlichen qualifizierenden Merkmalen, insbesondere zum Gruppencharakter und zur vorherigen Absprache von Verbrechen
  • Festsetzung darüber, dass es für diese Bestimmung keine Verjährung gibt. 

Zudem müssen die geltenden Artikel 302 (Erpressung einer Aussage) des StGB der RF sowie Artikel 286 Teil 3 (Überschreitung der Dienstbefugnisse mit Gewaltanwendung) verändert werden, um sicherzustellen, dass Folter nicht unter diese Artikel fallen kann. 

Die Unterzeichnenden:

Fonds „Obschtschestvennij Verdikt“ [Public Verdict]

Menschenrechtszentrum Memorial

Komitee „Grashdanskoe Sodejstvie“ [Bürger-Unterstützung]

„Komitee protiv Pytok“ [Komitee gegen Folter]

„Fond v Zaschtschitu Prav Zakljutschennych“ [Fonds zum Schutz der Rechte von Häftlingen]

„Pravozaschtschitnyj Sovet Sankt-Peterburga“ [Menschenrechtsrat Sankt-Petersburg]

„Institut Prav Tscheloveka“ [Institut für Menschenrechte]

„Moskovskaja Chelsinkskaja Gruppa“ [Moskauer Helsinki Gruppe]

Leonid Agafonov, Menschenrechtsprojekt „Zhenschtschina. Tjurma. Obschtschestvo.“ [Frau. Gefängnis. Gesellschaft]

Valerij Borschtschev, Stellvertretender Vorsitzender Moskauer Helsinki Gruppe

Grigorij Michnov-Vajtenko, Geistlicher

Aleksandr Verchovskij, Direktor Informations- und Analysezentrums Sova

Jurij Dshibladze, Menschenrechtsaktivist

Grigorij Durnovo, OVD-Info

Igor Kaljapin, Mitglied des Menschenrechtsrats beim Russischen Präsidenten

Roman Katschanov, Vorsitzender Interregionales Zentrum für Menschenrechte, Jekaterinburg

Sergej Krivenko, Vorstandsmitglied Memorial International

Leonid Krikun, Anwalt

Lev Levinson, Menschenrechtsaktivist

Evgenija Litvinova, Menschenrechtsrat Sankt-Petersburg

Sergej Lukaschevskij, Geschäftsführer Sacharov Zentrum

Karina Moskalenko, Anwältin

Asmik Novikova, Leiterin Forschungsprogramm Public Verdict

Oleg Orlov, Vorstandsmitglied Menschenrechtszentrum Memorial, Vorstandsmitglied Memorial International

Ella Poljakova, Menschenrechtsaktivistin

Aleksey Sokolov, Direktor Vereinigung „Pravovaja Osnova“ [Rechtsgrundlage], Ekaterinenburg

Natalja Taubina, Direktorin Public Verdict

Alla Frolova, Menschenrechtsaktivistin

Valentina Tscherevatenko, Vorsitzende „Zhenschtschiny Dona“ [Frauen vom Don]

Aleksandr Tscherkassov, Vorsitzender Menschenrechtszentrum Memorial, Vorstandsmitglied Memorial International

Elena Schachova, Vorstandsvorsitzende „Grazhdanskij Kontrol“ [Bürgerkontrolle]

Lilija Schibanova, Menschenrechtsaktivistin

 

 

27. Dezember 2021/13. Januar 2022

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