"Entweder lebt man unter einem Damoklesschwert oder man postet ausschließlich Katzen"

2021 kam es zu etlichen Gesetzesverschärfungen gegen NGOs, die angeblich „ausländische Agenten“ sind, darüber hinaus wurde der Kreis potentieller „Agenten“ erneut ausgeweitet. Über die sich hieraus ergebenden Konsequenzen – soweit absehbar – sprach Vladimir Shvedov, Chefredaktuer von „Takie dela“ mit der Juristin Tatjana Glushkova vom Menschenrechtszentrum Memorial. Das Interview erschien am 28. Juni in russischer und englischer Fassung bei Legal Dialogue.

 

Vladimir Shvedov: Seit Ende 2020 hat sich die Gesetzgebung über ausländische Agenten in ein monströses Chaos verwandelt – man verheddert sich hoffnungslos in Personen und Medien, die „ausländische Agenten“ sind, in den neuen und alten Bestimmungen. Was hat sich tatsächlich verändert? Wozu bedarf es dieser abwegigen juristischen Konstruktionen?

Tatjana Glushkova: Um zu verstehen, was jetzt vorgeht, müssen wir auf das Jahr 2012 zurückgreifen. Wie sah das „Agentengesetz" vor Einführung der neuen Bestimmungen aus? Es bezog sich vor allem nur auf juristische Personen. Eine Organisation, die in dieses Verzeichnis aufgenommen wurde, war verpflichtet,

-  zusätzliche Tätigkeitsberichte abzugeben und ein jährliches Audit durchzuführen
-  sämtliche Publikationen mit dem Vermerk zu versehen, dass sie ein „ausländischer Agent" ist.

Vladimir Shvedov: Direkte Beschränkungen für ihre Tätigkeit gab es also nicht, nur bürokratische Erschwernisse? Was waren die negativen Folgen des „Agenten-Status"?

Tatjana Glushkova: Jede zusätzliche Abrechnung, die vorzulegen ist, bringt ein weiteres Risiko für Sanktionen mit sich. Wenn man irgendwo etwas auslässt, folgt darauf eine Geldstrafe. Verspätete Abrechnungen werden bei „ausländischen Agenten" sehr viel strenger geahndet als bei gewöhnlichen NGOs. Eine Verspätung von einem Tag zieht eine Geldstrafe von mindestens 100.000 Rb. nach sich. 

Diese Abrechnungen verschlingen menschliche Ressourcen, und das jährliche Audit ist sehr kostspielig. Natürlich ist das für kleine Organisationen, in denen nur zwei bis drei Personen ständig arbeiten, besonders schwierig. Für große NGOs wie Memorial sind diese Vorschriften noch zu bewältigen.

Darüber, wie unangenehm die verlangte Kennzeichnung der Publikationen ist, ist in den letzten acht Jahren schon vieles gesagt worden. Ein „ausländischer Agent“ ist im öffentlichen Bewusstsein so etwas wie ein Spion. Aber ein Problem ist auch, dass nicht ganz klar ist, was überhaupt mit diesem Etikett des „ausländischen Agenten“ zu versehen ist. Um Strafzahlungen zu vermeiden, ist es am sichersten, alles, selbst die Visitenkarten der Mitarbeiter, zu markieren. Und sämtliche Druckerzeugnisse, selbst wenn man die Verfassung abdruckt und verteilt.

Da gab es natürlich viele ungeklärte Fragen. Wie ist es mit Auftritten in sozialen Netzen? Jahrelang wurde niemand wegen einer fehlenden Markierung in den sozialen Netzen bestraft, aber 2019 wurde das plötzlich anders. Es ist nicht auszuschließen, dass in Zukunft verlangt wird, jeden Post zu markieren, wie das von Medien verlangt wird, die als „ausländische Agenten“ registriert sind. Sehen Sie sich „Meduza" bei Twitter an, wie das aussieht.

Eine weitere schwerwiegende Folge ist die, dass der Status des „ausländischen Agenten“ dazu führt, dass alle staatlichen Organe jede Kooperation oder gemeinsame Arbeit ablehnen, und manche privaten Partner ebenfalls.

Manche Organisationen waren darauf eingerichtet und ließen sich dadurch nicht schrecken. Das gilt etwa für den Fonds gegen Korruption (von Navalnyj). Aber der unangenehme Status betraf z. B. auch die NGO „Bürgerhilfe“, die Flüchtlinge und Zwangsumsiedler unterstützt. Sie arbeitet mit Mitarbeitern der Migrationsdienste zusammen und hat für sie juristische Seminare durchgeführt. Natürlich wird kein Staatsangestellter ein Seminar eines „ausländischen Agenten“ besuchen.

Obwohl es formell keine Einschränkungen in der Arbeit gab, war für viele Organisationen die Registrierung als „ausländischer Agent“ ein Schlag. Denn es bedeutet im Grunde, dass die Organisation ein „Volksfeind“ ist, dass ihre Arbeit dem Staat nicht passt, und folglich begannen selbst Schulen, Hochschulen oder Bibliotheken, den Kontakt mit ihnen zu meiden.

Vladimir Shvedov: Wieviele NGOs sind derzeit „ausländische Agenten“?

Tatjana Glushkova: Jetzt (im Mai 2021) befinden sich 76 Organisationen in der Liste. Viele wurden ja aus dem Verzeichnis ausgetragen. Manche haben sich aufgelöst, andere bekommen keine ausländischen Gelder mehr und sind deshalb nicht mehr in dem Register. Eine Liste der ausgetragenen NGOs ist nicht einsehbar, obwohl das Justizministerium eine interne Statistik führt. Im „ertragreichsten“ Jahr – 2015 – waren 81 Organisationen verzeichnet.

Vladimir Shvedov: 2016 wurde das Gesetz bereits ergänzt, um den Begriff der „politischen Tätigkeit“ zu präzisieren. War das vorher nicht klar genug?

Tatjana Glushkova: Ursprünglich war die Bestimmung „politische Tätigkeit“ sehr schwammig. Darunter kann man alles Mögliche verstehen, selbst einen UN-Bericht oder die Publizierung des Jahresberichts einer NGO auf ihrer Seite, wozu die NGOs stets verpflichtet waren (beide Fälle sind vorgekommen, der erste betraf das ADZ (Antidiskriminierungszentrum) Memorial und der zweite die „Don-Frauen“). Aber die begriffliche Unklarheit ließ Raum für Diskussionen vor Gericht. So wurde das Levada-Zentrum zum „ausländischen Agenten“, weil es Umfrageergebnisse und Aufsätze über die Innen- und Außenpolitik der Russischen Föderation publiziert hatte. Unter Hinweis auf die ursprüngliche Fassung des Gesetzes konnte es vor Gericht darüber streiten, ob das nun eine politische Tätigkeit war oder nicht.

Aber 2016 machten die Behörden keinen Hehl mehr aus ihrer Einstellung und fassten die Definition der „politischen Tätigkeit“ genauer. Seitdem ist darunter in unserem Land einfach jede staatsbürgerliche Aktivität zu verstehen, sämtliche öffentlichen Appelle an Staatsorgane oder Amtspersonen, Kommentare zur Regierungspolitik, soziale Umfragen, ganz zu schweigen von Demonstrationen oder Wahlbeobachtung.

Vladimir Shvedov: Was war der Anlass für die neuen Bestimmungen?

Tatjana Glushkova: Wenn wir von denen der letzten Monate sprechen, so ist das eigentliche Motiv das Bestreben, die noch existierenden Reste der Zivilgesellschaft in Russland zu zerschlagen. Dahinter steckt offenbar die Angst vor wirklichen Massenprotesten wie in Belarus im letzten Jahr.

Wenn man den gesamten Komplex der neuen Regelungen betrachtet, die bereits verabschiedet wurden oder kurz davorstehen, dann wird klar, dass jede potentielle Aktivität der Zivilgesellschaft unter die Lupe genommen werden soll. Der Spielraum für jegliche Aktivität – nicht nur im Falle von Menschenrechtsorganisationen oder Oppositionellen – wird drastisch eingeschränkt.

Vladimir Shvedov: Es geht jetzt also nicht mehr um Formalitäten, sondern um ernsthafte Einschränkungen?

Tatjana Glushkova: Ja, und zwar um viele. Zunächst betrifft es die als „ausländische Agenten“ registrierten NGOs. Ihre Tätigkeit soll lückenlos kontrolliert werden. Ab September 2021 sind sie verpflichtet, das Justizministerium über all ihre Programme zu unterrichten, über alle geplanten Veranstaltungen. Und jährlich ist Rechenschaft darüber abzulegen, was davon tatsächlich realisiert wurde. Zugleich ist das Justizministerium berechtigt, jederzeit einfach mit einem Federstrich per Brief eines dieser Programme zu verbieten. Wenn die NGO dem nachkommt, bedeutet das, dass sie auf einen Teil ihrer Arbeit verzichtet. Wenn nicht, kann das Justizministerium beim Gericht die Auflösung dieser Organisation beantragen. Das läuft in beiden Fällen etwa auf das Gleiche hinaus.

Vladimir Shvedov: Dann geht es aber gar nicht um Politik? Wenn dem Justizministerium etwas nicht passt, etwa die Abgabe steriler Spritzen an Drogenabhängige, stellt es ein Ultimatum – wenn die Organisation das nicht einstellt, wird sie geschlossen.

Tatjana Glushkova: Ja genau. Dabei gibt es nicht einmal eine Liste mit auch nur annähernden möglichen Begründungen dafür, eine Aktivität zu verbieten. Und man muss beachten, dass man bereits vor Einführung dieser Bestimmung gesetzwidrige Tätigkeiten einer Organisation sehr einfach unterbinden konnte. Hätte eine NGO dazu aufgerufen, jemanden zu töten oder zu diskriminieren, ließe sich das auch ohne dieses Gesetz schnell beenden.

Jetzt besteht die einzige Anforderung an so einen „glücklichen Brief“ vom Justizministerium darin, dass das Verbot eines Programms begründet werden muss, aber wie dies geschieht, steht dem Ministerium vollkommen frei. Selbst wenn wir auf der Straße keine Spritzen, sondern Präservative verteilen, um die Verbreitung von AIDS zu stoppen, wird man sagen können, dass die Politik des Staats darauf abzielt, AIDS ausschließlich mithilfe familiärer Wertvorstellungen einzudämmen. Es sei umgehend zu unterbinden, dass die Bevölkerung durch Abgabe empfängnisverhütender Mittel zu sexuellen Ausschweifungen verführt wird.

Es gibt noch eine weitere wichtige Veränderung für NGOs, die juristische Personen sind: Alle Gründer, Mitglieder, Teilnehmer, Leiter oder Mitglieder eines Gremiums in einer NGO, die ein „ausländischer Agent“ ist, müssen in den sozialen Netzen, wenn sie „politisch tätig“ sind, d. h. sich zu einem öffentlich relevanten Thema äußern, einen Hinweis auf ihre Verbindung zu einem „ausländischen Agenten“ anbringen.

Ich bin z. B. im Rat des Menschenrechtszentrums Memorial, des ständigen leitenden Organs der Organisation… Seit März habe ich das in allen meinen sozialen Netzen angegeben, selbst da, wo ich vor allem Fotos meiner Katze poste. Denn ein einziger „politischer“ Post ohne diesen Vermerk kann mein Portemonnaie um 5.000 Rubel erleichtern.

Im Endeffekt sind wir jetzt so was wie der IS. Wenn sie uns erwähnen, müssen die Medien angeben, dass wir ein „ausländischer Agent“ sind. Die Formulierung ist zumindest bisher nicht streng festgelegt, und die unterschiedlichen Versionen der Journalisten gefallen mir durchaus. Einige schreiben beispielsweise „so genannter ausländischer Agent“.

Vladimir Shvedov: Die Bestimmungen für juristische Personen sind damit klar. Welche neuen Arten von „ausländischen Agenten“ sind jetzt zusätzlich aufgetaucht?

Tatjana Glushkova: Jetzt gibt es noch nichtregistrierte Organisationen, die als „ausländische Agenten“ verzeichnet wurden. Das ist in der Tat eine einigermaßen seltsame Konstruktion.

Grundsätzlich sieht die russische Gesetzgebung vor, dass man eine gesellschaftliche Vereinigung gründen kann, mit einer Satzung, mehreren inneren Organen usw., ohne sie als juristische Person zu registrieren. Und eben für diese nichtregistrierten Vereinigungen, die als unbequem gelten, wurde ein spezielles Register eingeführt.

Aber haben denn alle aktiven Gruppen, die keine juristische Person darstellen, überhaupt eine Satzung oder eine formale Struktur? Gilt das denn für solche wie etwa „Lisa Alert“ (ehrenamtliche Organisation, die nach vermissten Personen sucht) oder Freiwilligen-Gruppen, die Verhaftete in Polizeigewahrsam mit Päckchen versorgen? Seit 2012 sind sehr viele solcher kleinen und großen Initiativen entstanden. Die meisten LGBT-Gruppen sind nicht registriert, sie versuchen das auch nicht, weil sie eine Ablehnung fürchten. Es bilden sich einfach Initiativgruppen, diese geben sich eine Bezeichnung und werden aktiv.

Interessant wird es, wenn so eine Organisation zum „ausländischen Agenten“ erklärt wird. Dann müssen sie ihre Satzung im Justizministerium einreichen und über ihre Gründer und Leiter Auskunft geben.

Vladimir Shvedov: Aber wie geht das denn, wenn sie keine juristische Person sind?

Tatjana Glushkova: Das Gesetz geht davon aus, dass nichtregistrierte gesellschaftliche Vereinigungen fast genauso funktionieren, wie registrierte NGOs, nur eben ohne staatliche Registrierung. Dass es horizontale Vereinigungen oder Gruppen geben kann, die ohne formale Satzung arbeiten, haben unsere Behörden offenbar noch nicht gehört.

Vladimir Shvedov: So gibt es in Jekaterinburg zehn ehrenamtliche Menschenrechtsaktivisten. Sie haben eine informelle Gruppe gebildet – „Square“. Jedes Jahr lösen sich die drei Führungspersonen ab, und es gibt sieben weitere Mitglieder, die kommen und gehen. Sie wurden zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Welche Folgen hat das für sie?

Tatjana Glushkova: Alle, die als Gründer, Mitglieder, Teilnehmer, Leiter oder Mitglieder von Organen dieser gesellschaftlichen Vereinigung gelten, müssen ihre „politischen“ Posts mit dem Vermerk versehen, dass sie zu einem „ausländischen Agenten“ in Beziehung stehen. 

Im Moment ist es schwer zu sagen, wie bestimmt werden soll, wer Mitglied dieser nichtregistrierten „Agenten“-Organisation ist und wer nicht. Es ist nicht auszuschließen, dass Personen von ihrer „Mitgliedschaft“ aus einem Bescheid über eine Ordnungsstrafe wegen eines administrativen Gesetzesverstoßes erfahren. Die Geldstrafe beträgt dann 5.000 Rubel - ebenso wie die für Mitglieder oder Leiter von NGOs, die „Agenten“ sind.

Vladimir Shvedov: Wie wird bewiesen, dass eine ausländische Finanzierung vorliegt und dass sie der Arbeit der Organisation zugutekommt?

Tatjana Glushkova: Das ist eine gute Frage. Dazu muss zunächst die Verbindung zwischen einem Bankkonto (das einer physischen oder juristischen Person gehört), auf dem Geld aus dem Ausland eingeht, und der Tätigkeit dieser Gruppe festgestellt werden. Wie das geschehen soll, wie die „Standards“ dafür aussehen, ist im Augenblick noch unklar. Wenn man sich übrigens die Praxis in den Verfahren gegen „Agenten-NGOs“ ansieht, bin ich da ziemlich pessimistisch. Ich rechne durchaus damit, dass eine ausländische Finanzierung etwa so nachgewiesen wird, dass es ein Bankkonto gibt, mit dem eine Person zu tun hat, die das Justizministerium einer nichtregistrierten Gruppe zuordnet. Auf diesem Konto ist Geld aus dem Ausland eingegangen – also kann man die Gruppe zum ausländischen Agenten erklären.

Dazu ist festzuhalten, dass es bei der Geldquelle nur darauf ankommt, dass sie im Ausland ist. Ob das nun eine Spende für die Arbeit einer informellen Gruppe ist oder ein Geschenk der in Minsk lebenden Großmutter für ein Mitglied dieser Gruppe, spielt dabei keine Rolle.

Um zu unserem nichtregistrierten Kreis „Square“ zurückzukehren. Wenn etwa einer von zehn Aktivisten in einem internationalen Unternehmen als Programmierer beschäftigt ist und etwas von seinem Geld für die Organisation spendet, ja schon wenn er für diese nichtregistrierte Gruppe auf seinem Drucker Flugblätter druckt, gilt das bereits als ausländische Finanzierung. Dazu bedarf es gar keiner Projektförderung aus dem Ausland. Die Höhe des Betrags spielt ebenfalls keine Rolle.

Vladimir Shvedov: Was passiert, wenn eine nichtregistrierte Organisation als „ausländischer Agent“ verzeichnet wird?

Tatjana Glushkova: Erstens muss sie alle Äußerungen, die im Namen dieser Organisation erfolgen, und alle Dokumente mit dem entsprechenden „Etikett“ versehen. Andernfalls drohen empfindliche Geldstrafen: Für gewöhnliche Mitglieder 50.000-100.000 Rubel, für Personen mit Funktionen (Leiter der Gruppe usw.) 100.000 bis 300.000 Rubel.

Teilnehmer, Mitglieder, Leiter usw. müssen wie gesagt alle „politischen“ Aussagen kennzeichnen, die in ihrem Namen gemacht werden, andernfalls droht eine Geldstrafe von 5.000 Rubeln.

Außerdem müssen sie vierteljährlich über die eingegangenen ausländischen Gelder und deren Verwendung Rechenschaft ablegen. Für eine Verspätung oder Unterlassung haftet der Leiter der Organisation mit einer Geldstrafe von 10.000 bis 30.000 Rubeln.

Natürlich müssen die Medien, wenn sie eine nichtregistrierte Organisation erwähnen, auch hier anmerken, dass von einem „ausländischen Agenten“ die Rede ist.

WENN MAN EIN MENSCH IST

Vladimir Shvedov: Soweit ich verstehe, kann man auch ein „ausländischer Agent“ werden, selbst wenn man keiner Organisation angehört?

Tatjana Glushkova: Ja. Eine Einzelperson, die aus dem Ausland Geld bekommt und „politisch“ tätig ist, kann ebenfalls zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden. Das kann jemanden als Massenmedium oder einfach als physische Person betreffen (rein theoretisch kann auch beides zugleich der Fall sein). Bei letzteren gibt es eine weitere besondere Kategorie – Personen, die Informationen sammeln, die die die militärische Sicherheit der Russischen Föderation gefährden.

Vladimir Shvedov: Fangen wir mit der Einzelperson an, die zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde

Tatjana Glushkova: Die Folgen sind hier ähnlich wie bei nichtregistrierten Organisationen: Obligatorische Abrechnungen über Eingang und Verwendung der Gelder aus dem Ausland (allerdings nur halb- und nicht vierteljährlich) und die Kennzeichnung aller Veröffentlichungen mit dem Vermerk „ausländischer Agent“.

Bisher wurden noch keine Formalien für die Abrechnungen festgelegt, aber Entwürfe dafür gibt es bereits. Sämtliche Details der Verwendung ausländischer Gelder sind anzugeben. Das heißt, wenn jemand von einem ausländischen Arbeitgeber Gehalt bezieht, von dem er lebt, muss er in die Abrechnung seine gesamten privaten Ausgaben eintragen, also eine Art private Buchhaltung führen, nicht für sich, sondern für den Staat.

Das wirft natürlich Fragen zur Rechtmäßigkeit eines solchen Eingriffs in das Privatleben auf. Dass eine Organisation angeben muss, wem sie wieviel bezahlt hat, sehe ich ein. Aber nicht, warum jemand öffentlich berichten muss, wo er war, was er gegessen und was er gekauft hat.

Es gibt noch eine weitere Einschränkung für diese Personen – sie können nicht im Staatsdienst oder im kommunalen Bereich arbeiten.

Vladimir Shvedov: Und wie ist es mit den entsprechenden „individuellen Massenmedien“ – also mit Einzelpersonen, die als Massenmedium und als „ausländischer Agent“ gelten?

Tatjana Glushkova: Dass eine Einzelperson ein Massenmedium und ein „ausländischer Agent“ sein soll, ist natürlich irrwitzig. Ehrlich gesagt scheint mir, dass die Machthaber vor anderthalb Jahren, als dieser Begriff eingeführt wurde, noch davor zurückschreckten, nun auch Einzelpersonen und nicht nur Organisationen als „ausländische Agenten“ zu registrieren. Deshalb fügten sie „Massenmedium“ hinzu, um den Anschein zu erwecken, es handle sich um eine Art Rundfunkstation.

Aber nach einem Jahr war das staatliche Rechtsbewusstsein bereits so weit degradiert, dass es keinen Anstoß mehr an der Vorstellung nahm, Individuen zu „Agenten“ zu deklarieren. Oder diese Konstruktion schien jemandem aus dem Justizministerium zu abwegig, und man wollte sie vereinfachen…

Vladimir Shvedov: Aber was ist der Unterschied zwischen „einfachen Einzelpersonen“ und Einzelpersonen, die als Massenmedien „ausländische Agenten“ sind?

Tatjana Glushkova: Da gibt es mehrere Unterschiede.

Erstens muss eine Einzelperson als Massenmedium, die zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde, sich innerhalb eines Monats als russische juristische Person registrieren, die innerhalb der Russischen Föderation Nachrichten verbreitet. Diese juristische Person hat dann dieselben Verpflichtungen wie entsprechende NGOs (Rechenschaftsberichte, jährliche Audits usw.). Sie muss halbjährlich über ihre Tätigkeit Bericht erstatten und vierteljährlich über die Verwendung ihrer Finanzmittel. Das ist natürlich umständlich und ziemlich abwegig. Wie soll diese juristische Person gegründet werden – als kommerzielle oder nichtkommerzielle Organisation? In der Praxis gründen diese Personen als Massenmedien eine GmbH, weil das am einfachsten ist.

Für „einfache“ Personen besteht diese Verpflichtung nicht.

Unterschiede gibt es auch hinsichtlich der Sanktionen bei Verstößen gegen diese Gesetze. Personen als „Massenmedien“ können beim ersten Mal eine Geldstrafe von 10.000 Rubeln erhalten (wenn sie einer der Auflagen nicht nachkommen – der Rechenschaftspflicht, Markierung usw.). Im Wiederholungsfalle innerhalb eines Jahres werden 50.000 Rubel fällig. Ein dritter Verstoß innerhalb eines Jahres kann zu einem Strafverfahren führen mit einem Strafrahmen von bis zu zwei Jahren Haft.

Bei Personen ohne Medien-Status ist das anders. Zunächst schreibt das Gesetz vor, dass sich diese Personen als potentielle Agenten freiwillig in die entsprechende Liste eintragen sollen. Wenn jemand das nicht will und vom Justizministerium da verzeichnet wird, kommt es darauf an, warum er zum „Agenten“ erklärt wurde. Für die „gezielte Sammlung von militärischen oder militärtechnischen Informationen über die Russische Föderation“, kann man gleich bis zu fünf Jahre ins Gefängnis kommen. Wenn es um politische Aktivitäten geht, dann kommt es zu einer Geldstrafe von 30.000 bis 50.000 Rubeln. Wenn jemand innerhalb eines Jahres seiner Rechenschaftspflicht nicht nachkommt (z. B. die Abgabefrist nicht einhält), droht auch hier eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren.

Wichtig ist noch, dass man aus dem Register „einfacher“ „Agenten“ auf Antrag gelöscht werden kann, zumindest theoretisch. Aus dem Verzeichnis für Massenmedien ist dies nur auf Initiative staatlicher Organe möglich.

Vladimir Shvedov: Derzeit sind im „Agenten“-Register für individuelle Massenmedien fünf Einzelpersonen verzeichnet. Wie sind sie dahin gekommen?

Tatjana Glushkova: Meines Wissens wurde das offiziell nicht bekanntgegeben. Zwei von ihnen haben für Publikationsorgane gearbeitet, die zuvor als „ausländische Agenten“ registriert worden waren. Wahrscheinlich war also das der Grund. Lev Ponomarev ist Pressemeldungen zufolge deshalb verzeichnet worden, weil er ausländische Medien gepostet, also in sozialen Medien geteilt hat.

Aber man braucht gar nichts mit Medien zu tun zu haben, die „Agenten“ sind, um selbst einer zu werden. Darja Apachontschitsch hat ihre Registrierung gerichtlich angefochten und dabei erfahren, dass der Grund dafür in ihrer „politischen Tätigkeit“ lag – nämlich ein Post über eine genehmigte Solidaritätskundgebung mit den Angeklagten im Prozess gegen „Set“, der Aufruf zur Unterstützung von Julia Zvetkova, ihre Seite bei Youtube „Feministen erklären“ sowie einfach „Seiten in sozialen Netzen“.

Vladimir Shvedov: Welche weiteren Verpflichtungen hat ein individuelles Massenmedium als „ausländischer Agent“?

Tatjana Glushkova: Die Person muss ihre Posts markieren, wie alle „ausländischen Agenten“. Anders als bei den übrigen gibt es hier aber eine strenge Regel für die Kennzeichnung, die die Aufsichtsbehörde Roskomnadzor bestätigt hat.

Hier ist folgende Formulierung vorgeschrieben: „Die vorliegende Mitteilung (das Material) wurde von ausländischen Massenmedien, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben und (oder) von einer russischen juristischen Person, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausübt, erstellt und (oder) verbreitet.“

Dieser Text muss unter dem Titel der Textmitteilung stehen, und die Schrift muss doppelt so groß sein wie die der Mitteilung. Wie man das in den sozialen Netzen machen soll, wo die Schriftgröße immer gleich ist, ist unbekannt. Derzeit bringen die individuellen Massenmedien den Vermerk in Versalien an, also in Großbuchstaben.

Bei Audio- oder Video-Materialien muss der Text gleich am Anfang kommen und mindestens 15 Sekunden lang sein, ohne Hintergrundmusik. Im Video muss er mindestens 20 % des Bildschirms ausfüllen.

Vladimir Shvedov: Die Obliegenheiten dieser „individuellen Massenmedien“, eine juristische Person zu gründen, die Berichtspflichten – das alles scheint völlig absurd. Warum wurde das so kompliziert gemacht?

Tatjana Glushkova: Ich vermute Folgendes: 2019 nahm man Personen ins Visier, die das Gleiche tun wie Organisationen, die bereits als „ausländische Agenten“ verzeichnet waren, aber in keiner NGO arbeiten, sondern als Privatpersonen. Diese sollten nun auch als „Agenten“ erfasst werden.

Bei der Formulierung hatten die Gesetzgeber Probleme: Einzelpersonen zu ausländischen Agenten zu erklären und zu zwingen, ihre Privatausgaben abzurechnen, ist abwegig. Deshalb kam man auf die Idee, dass sie eine juristische Person gründen sollten, die über ihre Tätigkeit, in Wirklichkeit natürlich doch über ihre persönlichen Aktivitäten, rechenschaftspflichtig ist. So ist ein juristisches Monster entstanden, das von vornherein völlig untauglich ist.

Ende 2020 zeigte sich, dass man alle Bedenken fallen lassen und einfach Einzelpersonen zu „ausländischen Agenten“ erklären kann.

Vladimir Shvedov: Und was ist mit den echten ausländischen Massenmedien, die zu „ausländischen Agenten“ erklärt wurden – welche sind das?

Tatjana Glushkova: Die Wortverbindung „echter ausländischer Agent“ scheint mir fragwürdig, aber ursprünglich richtete sich dieses Gesetz gegen ausländische Medien. Um als „ausländischer Agent“ verzeichnet zu werden, muss ein Medium nicht unbedingt eine russischsprachige Version haben, auf russischem Territorium senden usw.

Derzeit sind 15 Medien als „Agenten“ verzeichnet, die keine Einzelpersonen sind.

Vladimir Shvedov: Fassen wir zusammen. Gesetzt, wir haben die informelle Organisation „Square“, sie ist „ausländischer Agent“, und ich bin ihr Vorsitzender. Was muss ich dann tun?

Tatjana Glushkova: Markieren Sie die Seite, die sozialen Netze der Organisation sowie Ihre eigenen sozialen Netze und alle Druckerzeugnisse. Reichen Sie die erforderlichen Berichte ein.

Bei der Kennzeichnung stellt sich die Frage, was alles markiert werden muss. Was ist mit Visitenkarten? Und wenn Sie leere Notizblöcke an Konferenzteilnehmer ausgeben – ist das bereits „Informationsmaterial“?

Achten Sie auf Ihre persönlichen Accounts in sozialen Netzen. Wenn Sie auf Ihrem privaten Twitter-Account schreiben, dass bei Ihnen zu Hause schlecht geheizt wird, kann das als Kritik an behördlichen Maßnahmen ausgelegt werden, also als politische Tätigkeit.

Vladimir Shvedov: Wie kann man sich gegen die Einstufung als „ausländischer Agent“ zur Wehr setzen?

Tatjana Glushkova: Theoretisch kann man gegen die diesbezügliche Entscheidung des Justizministeriums klagen. Wie das im Falle einer nichtregistrierten Organisation abläuft, ist mir allerdings unklar.

Um auf die Gruppe „Square“ zurückzukommen. Sie hat weder Satzung noch einen formellen Vorstand, aber sie wurde zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Nehmen wir an, eine Mascha Ivanova will dies im Namen der Organisation anfechten. Zwei Ergebnisse sind möglich: Entweder beschließt das Gericht, dass Mascha nicht berechtigt ist, die Organisation zu vertreten, und die Verwaltungsklage wird abgewiesen. Oder Mascha wird als Vorsitzende anerkannt mit allen Konsequenzen – also den obligatorischen Berichten und Geldstrafen, wenn sie nicht eingereicht werden usw.

Vladimir Shvedov: An welches Gericht müsste man sich wenden?

Tatjana Glushkova: An ein Gericht am Standort des Organs, das die Registrierung als „Agent“ vorgenommen hat.

Vladimir Shvedov: Aber das geschieht doch durch das föderale Justizministerium?

Tatjana Glushkova: Ursprünglich war es eine besondere Vergünstigung, dass das föderale Justizministerium dies vornahm, das sollte regionale Organisationen gewissermaßen vor persönlichen Rachefeldzügen lokaler Funktionäre schützen. Aber das hatte nicht den gewünschten Effekt - das Justizministerium richtet sich bei seiner Entscheidung, eine NGO zum „Agenten“ zu erklären, ja doch nach den Überprüfungsergebnissen eben jener regionalen Funktionäre.

Wenn Sie eine Verwaltungsklage ans Bundesorgan richten, das Problem aber auf den Aktionen eines territorialen Organs beruht, dann kann man es vor einem Gericht am Standort dieses Organs anfechten.

Vladimir Shvedov: Hat man denn Chancen, vor Gericht zu gewinnen?

Tatjana Glushkova: Es gibt keine effiziente Strategie, um das Gericht davon zu überzeugen, dass man kein Volksfeind ist. Zu 99 % wird man verlieren. Aber wenn man kämpfen und bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gehen will, muss man zeigen, dass das, was als politische Tätigkeit bestimmt wurde, dies im üblichen Sinn des Wortes nicht ist – dass es sich nicht um einen Kampf um Macht handelt, sondern um eine gesunde zivilgesellschaftliche Aktivität.

In jedem Fall muss man sich auf die Vereinigungsfreiheit berufen, wenn eine Organisation zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde, sowie auf das Recht auf Meinungsfreiheit, wenn es um eine Einzelperson geht. Außerdem kann man sagen, dass das Gesetz zu unbestimmt und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu unklar sind, z. B. bei der Kennzeichnungspflicht von „Informationsmaterialien“.

Vladimir Shvedov: Hat es Sinn, sich an den EGMR zu wenden?

Tatjana Glushkova: Ehrlich gesagt, bin ich vom Europäischen Gericht enttäuscht. Schon acht Jahre lang bringt es nicht fertig, eine Stellungnahme zur Situation mit den „ausländischen Agenten“ abzugeben.

Die erste Klage wurde bereits im Februar 2013 eingereicht – noch bevor das Gesetz erstmals zur Anwendung kam. Geklagt haben elf NGOs, die sich als potentielle Opfer des Gesetzes sahen. Zehn von ihnen sind wirklich ins Register aufgenommen worden, nur eine nicht – die Moskauer Helsinki-Gruppe – weil sie gänzlich auf ausländische Finanzierung verzichtete. Die übrigen haben sich nicht ohne Grund Sorgen gemacht.

Das EGMR hat die Klage behandelt und die Kläger sowie den russischen Staat befragt, und das war‘s. Im März 2018 hat das Gericht die Antworten erhalten, und einen Beschluss gibt es bis heute nicht. Obwohl wir bei allen sich ergebenden Gelegenheiten immer wieder betont haben, dass man uns, während das Gericht schweigt, zerschlagen wird.

Wenn es doch noch einen Beschluss geben sollte, bevor die Zivilgesellschaft in Russland endgültig vernichtet wurde, dann müssten zumindest alle Geldstrafen zurückerstattet werden.

Vladimir Shvedov: „Square“ ist also zum „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Wenn man nichts tut – weder dagegen klagt noch irgendwelche Dokumente einreicht, was passiert dann?

Tatjana Glushkova: Die Behörden werden die leitenden Personen der Gruppe irgendwie identifizieren, und sie mit Strafen bombardieren.

Physischen Personen, die die Entscheidung des Justizministeriums ignorieren, wird es deutlich schlechter ergehen. Wenn sie „Informationen sammeln, die die militärische Sicherheit gefährden“, droht ihnen bereits beim ersten Verstoß ein Strafverfahren, handelt es sich um „politische Tätigkeit“, dann beim zweiten Vorfall. Der Strafrahmen reicht bis zu fünf Jahren, das entspricht einer Haftstrafe für Mord bei mildernden Umständen.

Vladimir Shvedov: Außerdem gibt es noch die ausländischen unerwünschten Organisationen, mit denen jegliche Zusammenarbeit untersagt ist. Dieses Thema ist etwas in Vergessenheit geraten. Gibt es da eine neue Entwicklung?

Tatjana Glushkova: Vor kurzem, am 4. Mai, wurden zwei Gesetzentwürfe in die Duma eingebracht, die die diesbezüglichen Gesetze verschärfen.

Erstens soll die Mitwirkung an Projekten dieser Organisationen nicht nur im Inland, sondern auch außerhalb der Russischen Föderation verboten werden. Zweitens soll das Procedere bei der Strafverfolgung von Kontakten mit „unerwünschten Organisationen“ erleichtert werden. Derzeit kommt es erst dann zu einem Strafverfahren, wenn bereits zwei Ordnungsstrafen innerhalb eines Jahres verhängt wurden. Der Strafrahmen soll allerdings geringfügig gesenkt werden – statt zwei bis sechs Jahre Haft (wie jetzt) auf ein bis vier Jahre.

Dafür soll sofort ein Verfahren gegen den Vorstand einer „unerwünschten“ Organisation eingeleitet werden, ohne vorherige Ordnungsstrafe. Und der Strafrahmen bleibt der gleiche (bis zu sechs Jahren Strafkolonie).

Wenn beide Gesetze angenommen werden, wird man auch für eine im Ausland erfolgende Kooperation mit einer „unerwünschten“ Organisation zur Rechenschaft gezogen. Wenn also jemand auf einer Auslandsreise mit „Unerwünschten“ Kontakt hat und dies den russischen Behörden bekannt wird, kann man ihn bei der Rückkehr der Mitwirkung an der Leitung einer „unerwünschten Organisation“ bezichtigen und sofort einsperren.

Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat diesen Gesetzentwurf allerdings mit dem Hinweis kritisiert, dass eine Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortung stichhaltig zu begründen sei. Es bedürfe „einschlägiger Informationen und statistischer Daten, die belegen, dass die gegenwärtige rechtliche Regelung nicht ausreicht“, außerdem „besonderer Analysen, die die Zweckmäßigkeit der neuen Bestimmungen beweisen“. Die Initiatoren der Gesetzinitiative haben natürlich nichts dergleichen vorgelegt. Deshalb besteht noch eine geringe Hoffnung, dass diese Gesetze nicht durchkommen.

Vladimir Shvedov: Häufig wird der Status des „ausländischen Agenten“ mit dem einer „unerwünschten“ Organisation verglichen – ersterer ist noch erträglich, Hauptsache, man wird nicht für unerwünscht erklärt.

Tatjana Glushkova: Nur ausländische oder internationale Organisation können für unerwünscht erklärt werden, diese Befürchtungen russischer NGOs beruhen hier also auf Unkenntnis.

Generell besteht in Russland heute eine eigenartige „Abstufung“ in den Status-Bestimmungen, die eine Organisation bekommen kann. Der „Agenten-Status“ ist der leichteste, weil es nicht strafbar ist, in einer solchen NGO zu arbeiten. Dann folgt der Status einer „unerwünschten“ Organisation, da man (zumindest bis jetzt) für die Mitwirkung erst nach einer Ordnungsstrafe strafrechtlich belangt werden kann. Dann folgt die „extremistische“ Organisation und der schlimmste ist der Status einer terroristischen Organisation. Bis vor kurzen bestand die Vorstellung, dass die letzten beiden in erster Linie extreme religiöse und nationalistische Organisationen betreffen, aber der Prozess gegen den Fonds gegen Korruption (FBK) hat gezeigt, dass dies nicht so ist.

Vladmir Shvedov: Bei uns wird gerne darauf verwiesen, dass es auch in den USA den Status des „ausländischen Agenten“ gibt. Besteht da wirklich eine analoge Gesetzgebung?

Tatjana Glushkova: Das sind völlig verschiedene Dinge. Ja, immer wird auf den FARA (Foreign Agent Registration Act) in den USA verwiesen, und in dieses Verzeichnis können ebenfalls Personen wie Organisationen eingetragen werden. Aber wir haben eine detaillierte Analyse dazu erstellt, die erklärt, warum das etwas ganz anderes ist. Es ist tatsächlich etwas anderes. Erstens wird man aus ganz anderen Gründen ins Register aufgenommen – wenn nämlich Organisationen oder Personen wirklich die Interessen eines ausländischen Staats vertreten. Menschenrechtsorganisationen kommen also nicht in diese Liste. In dem Gesetz gibt es eine genaue Bestimmung – ein Agent muss politisch die Interessen eines ausländischen Auftraggebers – Prinzipals – vertreten. Im russischen Gesetz ist von einem derartigen Zusammenhang zwischen ausländischen Geldern und ausländischen Interessen nicht die Rede.

Zweitens hat das in den USA andere Konsequenzen. Der Begriff des „foreign agent“ ist nicht mit „Volksfeind“ konnotiert, und niemand wird wegen dieses Status eine Kooperation ablehnen. Die Registrierung bedeutet lediglich, dass die Person oder Organisation Lobby-Arbeit für die Interessen einer Regierung betreibt. Diese Lobby-Arbeit ist in der amerikanischen Kultur im Prinzip etwas ganz Normales und hat nichts mit einer feindlichen Einstellung zu tun.

Unser Gesetz ist ein Zerrspiegel des FARA. Wir haben kein Kriterium für Handlungen im Interesse eines ausländischen Prinzipals. Menschenrechtsorganisationen agieren für die Menschenrechte und nicht für ausländische Staaten, aber das kümmert niemanden. Unsere Behörden versuchen es nicht einmal, den Zusammenhang zwischen ausländischer Finanzierung und feindlichen Interessen herzustellen.

Vladimir Shvedov: Überhaupt ist die Gesetzgebung ein Minenfeld, das man nicht unbesorgt überqueren kann. Aber welche praktischen Ratschläge kann es für Personen und Organisationen geben, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten und eine gesellschaftliche Tätigkeit ausüben?

Tatjana Glushkova: Eine reale Möglichkeit, sich zu schützen und die Risiken zu minimieren, sehe ich nicht, es sei denn, man gibt Ratschläge in dem Sinne, sich „möglichst ruhig und unauffällig zu verhalten, sich für Rentnerinnen einzusetzen, denen die Rente nicht ausgezahlt wird, und nicht für politische Gefangene“.

Ja, und Mitgliedern nichtregistrierter Gruppen kann man empfehlen, „weniger öffentlich über die Verbindung zu dieser Gruppe zu sprechen, damit keiner auf die Idee kommt, man sei eine Führungsperson dieser Organisation“. Aber das sind alles Empfehlungen zur Selbstzensur. Da wäre es einfacher, gleich zu sagen: „Mach eine Umschulung zur Nageldesignerin, und vergiss die Menschenrechte.“

Vladimir Shvedov: Wozu bedarf es angesichts des zunehmenden Rechtsnihilismus noch dieser komplizierten juristischen Konstruktionen, warum wird überhaupt versucht, allem den formalen Anschein von Gesetzlichkeit zu verleihen?

Tatjana Glushkova: Das eignet sich gut für Propaganda. Verhaftungen aus reiner Willkür können selbst bei Menschen Empörung auslösen, die sonst die Regierung unterstützen. Man bedenke, wie sich die Leute etwa über offene und ungerechtfertigte Polizeigewalt aufregen. Deshalb werden Gesetze verabschiedet und die Menschen sozusagen gesetzeskonform bestraft.

Das ist der erste Grund. Der zweite – diese Gesetze hängen wie ein Damoklesschwert über allen, die mit der derzeitigen Regierung in irgendeinem Punkt unzufrieden sind. Das betrifft nicht nur Mitarbeiter unbequemer NGOs oder bekannte Aktivisten, sondern alle, die öffentlich irgendeine zivilgesellschaftliche Position vertreten.

Nehmen wir die ersten fünf Personen, die als Massenmedien „ausländische Agenten“ sind. Darunter sind eine renommierte Person aus der Menschenrechtsbewegung, zwei Journalisten, die für Medien geschrieben haben, die „ausländische Agenten“ sind, ein weiterer Journalist und eine Aktivistin, die sich einfach in sozialen Netzen positioniert. Diese Liste zeigt überdeutlich, dass jeder in dieses Register hineinkommen kann, ganz unabhängig davon, wie bedeutend oder bekannt er ist und welche Kontakte er zu anderen hat, die sich bereits in einem dieser Verzeichnisse befinden.

Vladimir Shvedov: Gibt es denn irgendeine Chance, diesem Teufelskreis zu entrinnen, sich technisch und juristisch wenigstens etwas zu schützen?

Tatjana Glushkova: Wenn wir, wie gesagt, Alternativen wie etwa eine Umschulung zum KfZ-Mechaniker nicht in Betracht ziehen wollen, dann sehe ich keine solche Chance. Die Gesetzgebung wurde bewusst so angelegt, dass sie nur zwei Möglichkeiten lässt: Entweder man lebt unter dem Damoklesschwert oder man verzichtet ganz auf gesellschaftliche Aktivitäten und postet ausschließlich Katzen. Da kann man sich aussuchen, was einem besser gefällt.

 

28. Juni/9. August 2021

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