Berichte von der Demonstration in Moskau am 23. Januar

 

Bei den Demonstrationen in mehr als 100 Städten Russlands am 23. Januar zu Unterstützung von Alexej Navalnyj kam es nicht nur zu massenhaften Verhaftungen (OVD-Info zählt für diesen Tag mittlerweile über 4000 Festnahmen), sondern auch zu brutalen Übergriffen von Seiten der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten. Einige von ihnen haben ihre Geschichte erzählt. Wir bringen drei der Berichte gekürzt in Übersetzung.

 

Viktor Lopatov, Moskau 

 

Der 49-jährige Anwalt für Zivilrecht wollte gegen 15:20 Uhr vom Puschkinplatz aufbrechen, als er von Sicherheitskräften verprügelt wurde. Nach dem Bericht des Sklivosovskij-Notfallinstituts erhielt er eine Kopfverletzung sowie einen Bruch der rechten Hand. 

 

Ich bin in Toljatti geboren, lebe aber in Moskau. Mein Kopf schmerzt, die Hand tut weh, sie ist gebrochen: geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma, Bruch des Unterarmgelenks.

Ich war nicht zufällig bei der Aktion, sondern völlig bewusst, für unsere Zukunft, für das Recht unserer Kinder auf sozialen Aufstieg, für das Recht unserer Rentner auf eine würdige Rente, dafür, dass das Geld aus unseren verkauften Erdressourcen - Öl, Gas und Diamanten - im Budget des Landes bleibt.

Ich war genau zwei Tage vorher zu Hause in der Region Samara. Ich bin Anwalt für Zivilrecht und fuhr zu einem Gerichtsprozess. Ich sah, wie die Leute dort leben. Ihr Gehalt liegt bei 12 - 18 Tausend Rubel [ca. 130 – 195 Euro]. Die Menschen haben keine Perspektive. Ich habe vier Kinder und ich sehe für sie keine Zukunft.

Ich befand mich ungefähr zwanzig Meter vom Puschkin-Denkmal entfernt, als diese Schakale – Verzeihung, ich kann es nicht anders sagen – anfingen zu wüten und friedliche Leute mit Schlagstöcken angriffen. Ich wollte gerade zur Unterführung zur Metro gehen, weil ich nicht vorhatte an Aktionen teilzunehmen, bei denen es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt. Ich war zu einer friedlichen Demonstration gegangen.

Da versperrten sie uns den Weg. Ich rutschte aus und in dem Moment, in dem ich hinfiel, schlug mir jemand auf den Kopf. Ich verlor das Bewusstsein und stützte mich reflexartig noch mit der rechten Hand ab, auf die sie mir ebenfalls mit dem Schlagstock schlugen, mir lief das Blut aus der Nase.

Einer von den Jungs, die hinter mir standen, schaffte es, mich hochzuziehen. Sie brachten mich zur Treppe an der Metro. Da kamen uns OMON-Leute entgegen, ich versuchte sie zu fragen: „Warum macht ihr das mit uns? Wir sind doch zu einer friedlichen Versammlung gegangen.“ Einer sagte: „Ich kann nichts sagen.“ Ich ging zur Polizei, um eine Anzeige zu machen, dort riefen sie – und dafür möchte ich Danke sagen – einen Rettungswagen. Übrigens verhielten die sich sehr freundlich, wenn auch ein Mann mit hasserfülltem Blick auf mich zukam und fragte: „Wo wolltest du denn auch hin?“ Worauf ich sagte: „Wer bist du denn? Einer vom Zentrum E? [Zentrum zum Kampf gegen Extremismus] Dann nahm mich der Rettungswagen mit. Die Ärzte vom Rettungsdienst unterstützten mich vollkommen. Einer sagte sogar. „Wenn ich keinen Dienst gehabt hätte, wäre ich auch gekommen.“ Dann fuhren sie mich ins Krankenhaus, auch da gab es eine vollkommene Unterstützung durch die Ärzte, alle sagten ihre Meinung: „Das ist Willkür, so kann man nicht weiter leben.“ Keiner sagte: „Ihr seid Idioten, Handlanger des Westens, bezahlte Bastarde, euer Navalnyj ist ein Verräter. Alle zeigten Unterstützung. Als Jurist kann ich sagen, dass die Anzeige bei der Polizei keine Wirkung haben wird, weil der Beklagte unbekannt ist. Er versteckt sich hinter Sturmhaube und Helm, und das wird so bleiben. Erkennungsmarken trugen sie nicht. Aber sie handelten extrem brutal.

 

Marija Isaeva, Moskau 

 

Die 24-jährige Aktivistin und Netzwerk-Redakteurin der Libertären Partei LPR erhielt auf dem Puschkinplatz vier Schläge mit dem Schlagstock, als sie versuchte, einen alten Mann vor der OMON zu schützen. Die Ärzte des Botkinskaja Krankenhauses diagnostizierten einen Bluterguss am Kopf sowie eine Prellung des rechten Handgelenks. 

 

Wir standen auf dem Puschkinplatz in der Nähe der Absperrungen, als die OMON-Leute anscheinend plötzlich den Befehl erhielten einzuschreiten. Eine sehr große Menge von ihnen kam auf einmal auf uns zu, wir standen eingehakt. Es waren viele ältere Frauen dort sowie zierliche Mädchen, die wir versuchten, nach hinten zu schieben. Ich blieb vorn. Die Sicherheitskräfte stürmten auf uns zu, versuchten Leute herauszureißen. Das gelang ihnen kaum, wir standen so eng wie möglich nebeneinander, wichen ihren Schlagstöcken aus, versuchten die Unsrigen zu schützen und nicht zuzulassen, dass jemand aus der Menge herausgerissen wurde.

Anfangs griffen uns junge Kerle an, sie bemühten sich, Frauen und alte Leute nicht zu schlagen, aber dann, bei der zweiten oder dritten Welle waren es gestandene Männer, die uns voller Hass anschauten. Wer mich aber genau geschlagen hat, ist schwer auszumachen. Nach einem dieser Angriffe gab es eine Pause und die Leute ließen die Hände los.

Vor mir tauchte ein gebrechlicher alter Mann auf, ich versuchte, ihn schnell hinter unsere Kette zu drängen und gerade als ich mich umdrehte, bekam ich was auf den Kopf. Viermal schlugen sie mich. Mir schien, es sei alles in Ordnung, bis mir Blut das Gesicht herunterlief. Es fanden sich Leute, die Verbände und Desinfektionsmittel dabei hatten, sie führten mich aus der Menge, säuberten die Wunde, machten mir einen Verband und riefen einen Rettungswagen.

Dann saßen wir sehr lange im Wagen, die Sanitäter telefonierten, um herauszufinden, in welches Krankenhaus sie fahren sollten. Im Krankenhaus wurde eine Tomographie gemacht. Es kam heraus, dass ich keine Gehirnerschütterung und kein Schädel-Hirn-Trauma hatte, aber eine vier Zentimeter lange Wunde am Kopf. Sie nähten alles und jetzt muss ich eine Woche  ein Antibiotikum nehmen und die Wunde reinigen, bevor die Nähte entfernt werden.

Als die Festnahmen vor den Demonstrationen anfingen, hatte ich das Gefühl, dass es werden würde wie in Minsk, deshalb hatte ich seit dem Morgen Angst, dass ich nicht zurückkommen würde. Nur eine Kopfverletzung, das ist gut, umso mehr, weil in solchen Momenten klar wird, wer ein guter Mensch ist. Die Demonstranten, die meine Verletzung sahen, rannten nicht weg und erschraken sich nicht, weil mit ihnen ähnliches hätte passieren können. Die Menschen, die mir geholfen hatten, gingen danach auch nicht auseinander, sondern kehrten zur Demonstration zurück.

 

Igor Randelia, Moskau

 

Der 33-jährige Weinhändler und Sommelier verlor am Puschkinplatz während der Verhaftung durch einen Schlag auf den Kopf das Bewusstsein und kam wieder zu sich, als er von den Sicherheitskräften mit Händen und Füßen traktiert wurde. Mit dem Rettungswagen brachte man ihn ins Krankenhaus, wo mehrere Prellungen auf der Stirn festgestellt wurden.

 

Wir gingen demonstrieren für uns, für unsere Rechte, damit man uns hört und uns sieht. Meine Mama und ihr Bruder kamen auch, aber sie konnten rechtzeitig weglaufen. Ich stand in den ersten Reihen, als die OMON oder Leute in Helmen begannen, sich auf eine junge Frau zu stürzen. Wir schafften es, die Frau von den Schlagstöcken weg und in die hinteren Reihen zuziehen, hielten uns an den Händen. Mein Satz zwang die OMON wohl mich aus der Menge zu ziehen, ich sagte: „Warum zum Teufel essen Rentner und Veteranen aus Mülleimern! Für was kämpfst du?“

Danach zogen sie mich aus der ersten Reihe und zerrten mich zum Gefangenentransporter. Ich fiel in Ohnmacht, wie sich herausstellte von einem Schlag auf den Kopf mit dem Schlagstock. Ich wachte davon auf, dass man mich mit Schlägen und Tritten auf den Kopf wieder zu Bewusstsein brachte. Dann warf man mich in den Transporter. Ich saß drei Stunden darin. Wir waren etwa 30 Personen, man konnte kaum atmen. Der Motor war ständig an, es stank nach Benzin, den Leuten wurde schlecht. Im Bus saßen Mädchen aus der achten, neunten Klasse. Wir baten, wenigstens sie rauszulassen, aber sie ließen sie nicht gehen. Abends fuhren wir dann zur Polizeistation. Die Leute, die dort saßen, baten einen Rettungswagen zu rufen. Blut war keins geflossen, aber ich hatte eine Beule wie bei „Tom und Jerry“.

Die Sanitäter warteten anderthalb Stunden, bis ich irgendwelche Papiere ausgefüllt hatte. Die Polizisten ließen sie nicht zu mir in die Wache zu hinein. Ich ärgere mich darüber immer noch, sie hätten in der Zeit jemand anderem helfen, zu einem Notfall fahren können, aber stattdessen standen sie herum und warteten, bis ich alle Unterlagen unterschrieben hatte.

Von allen, die mit mir festgenommen worden waren, nahm der Rettungsdienst nur mich mit, weil ich die ernsthafteste Verletzung hatte. Im Krankenhaus schrieben die Ärzte schließlich: „Von einem Unbekannten auf einer Demonstration geschlagen.“ In der Aufnahme dort herrschte eine Atmosphäre wie nach einem hart umkämpften Fußballspiel: Alle hatten verbundene Köpfe und alle kamen von der Demonstration. Ich war ungefähr zwei Stunden im Krankenhaus, dann fuhr ich mit dem Taxi nach Hause. Wegen welches Paragraphen genau man gegen mich ein Protokoll aufnahm, erinnere ich nicht mehr. Man händigte mir nichts aus, keinerlei Kopie. Aussagen zu machen, hatte ich mich geweigert.

Ich war nicht einmal für Navalnyj auf die Straße gegangen. Um offen zu sein, passen mir viele seiner Punkte nicht. Ich ging für mich selbst auf die Straße, für meine Heimat. Es ärgert mich, dass das Land derzeit einfach ausgeraubt wird. Der Kelch ist übervoll. Bevor man mich in den Gefangenentransporter setzte, standen wir alle mit den Händen hinter dem Rücken, provozierten niemanden, wir brachten einfach unsere Meinung zum Ausdruck und fragten die OMON, wofür sie kämpfen. Und als Resultat begannen sie, uns mit Schlagstöcken zu schlagen.

Nun führen die Typen ja ihre Befehle aus. Wenn jetzt, sagen wir, Navalnyj an der Macht wäre, hätte er vielleicht auch so eine Nationalgarde und die würde genauso Befehle ausführen, das stimmt. Die Jungs sind klasse, hören auf niemanden und laufen los wie ein Rammbock mit gläsernen Augen. Aber wenn es zu Willkür kommt, wenn diese Nationalgardisten irgendein tierischer Instinkt dazu bringt, jungen Frauen auf den Kopf zu schlagen, dann ist das völlig außerhalb jeglichen Rahmens. Ihr seid doch viele, ihr könnt sie doch einfach unter den Arm nehmen und abführen, aber wozu schlagt ihr sie?

 

27. Januar/1. Februar 2021

 

 

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