Memorial erklärt neun Angeklagte zu politischen Gefangenen.

 

In diesem Sommer kam es in Moskau zu einer Reihe von Demonstrationen, hervorgerufen durch die Nichtzulassung von oppositionellen Kandidaten zur Wahl des Moskauer Stadtparlaments. Im Rahmen dieser Aktionen wurde eine große Zahl von Demonstranten festgenommen, gegen einige wurden Strafverfahren eröffnet. Mittlerweile sind mehrere Angeklagte zu Lagerstrafen verurteilt worden, unter Ihnen auch Personen, die Memorial zu politischen Gefangenen erklärt hat: Ivan Podkopajev, 3 Jahre Lagerhaft im allgemeinen Vollzug, Danil Beglez, 2 Jahre Lagerhaft im allgemeinen Vollzug, Kirill Shukov, 3 Jahre Lagerhaft im allgemeinen Vollzug, Evgenij Kovalenko, 3 ½ Jahre Lagerhaft im allgemeinen Vollzug. Wir bringen die Erklärung des Menschenrechtszentrums Memorial in Übersetzung.

 

 

Am 27. Juli 2019 kam es nicht zu Massenunruhen, sondern zu zahlreichen ungesetzlichen Verhaftungen von Demonstranten durch die Sicherheitskräfte.

Das Menschenrechtszentrum Memorial erklärt gemäß den internationalen Richtlinien für die Definition „Politischer Gefangener“ Danil Beglez, Aidar Gubaidulin, Egor Shukov, Kirill Shukov, Evgenij Kovalenko, Aleksej Minjailo, Ivan Podkopajev, Samariddin Radshabov und Sergej Fomin zu politischen Gefangenen. Gegen sie wird im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Massenunruhen verhandelt, zu denen es angeblich am 27. Juli in Moskau gekommen sein soll. An diesem Tag fanden dort Demonstrationen von mehreren tausend Menschen wegen der Nichtzulassung von oppositionellen Kandidaten zu den Moskauer Stadtparlamentswahlen statt. Nach drei Tagen, am 30. Juli, wurde ein Verfahren eingeleitet. Wir fordern, die genannten Personen sofort freizulassen und die Verantwortlichen für die ungesetzlichen Verfolgungen ebenso zur Rechenschaft zu ziehen wie diejenigen, die für die gewaltsame Auflösung der friedlichen Versammlungen in Moskau und anderen Städten Russlands verantwortlich sind.

Wessen man die Angeklagten beschuldigt

Alle Angeklagten wurden gemäß Artikel 212.2 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (Teilnahme an Massenunruhen begleitet von Gewalt und Zerstörung von Eigentum) angeklagt.

Vier der Verhafteten - Danil Beglez, Kirill Shukov, Evgenij Kovalenko und Ivan Podkopajev - werden gemäß Artikel 318.1 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation angeklagt (Anwendung nicht lebens- und gesundheitsgefährdender Gewalt gegen Staatsvertreter). Am 3. September wurde Ivan Podkopajev zu drei Jahren, Danil Beglez zu zwei Jahren Lagerhaft im allgemeinen Vollzug verurteilt. Aidar Gubaidulin und Samariddin Radshabov haben nach Meinung der Ermittler bei der Teilnahme an den Massenunruhen Gewaltanwendung gegen die Sicherheitskräfte vorbereitet: Artikel 30.1 und Artikel 318.1 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (Versuchter Einsatz von Gewalt gegen Staatsvertreter).

Nachdem die Grundlosigkeit der Anschuldigungen bezüglich der Massenunruhen gegen Egor Shukov offensichtlich geworden waren, wurden diese am 3. September durch eine Anklage gemäß Artikel 280.2 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation ersetzt (Aufruf zum Extremismus durch das Internet).

Warum das Menschenrechtszentrum Memorial die Angeklagten für unschuldig hält

Vertreter von Memorial befanden sich am 27. Juli am Ort des Geschehens und haben die Videoaufnahmen der Protestaktionen und der „Zusammenstöße“ zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gründlich untersucht, ebenso wie die Akten der Strafverfahren. Die Demonstration war friedlich. Alle Angaben bezeugen, dass es keinerlei Massenunruhen in Moskau gegeben hat.

Gemäß Artikel 31 der Russischen Verfassung ist die Freiheit der friedlichen Versammlung eines der wichtigsten Bürgerrechte. Die Behörden müssen die Durchführung von Versammlungen unterstützen und ihre Sicherheit gewährleisten. Am 27. Juli haben sie sich umgekehrt verhalten: Sie haben die friedliche Aktion verhindert, sie auseinandergejagt, etwa 1500 ihrer Teilnehmer festgenommen und dabei Gewalt angewendet. Die ungesetzliche Behinderung einer Kundgebung, Demonstration oder Versammlung wird gemäß Artikel 149 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation mit einer Strafe von bis zu drei Jahren bestraft.

Die "Gewalt", die einigen Angeklagte nach Artikel 318 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation vorgeworfen wird, war allerdings gar keine. So ist es offensichtlich, dass Samariddin Radshabov den Sicherheitskräften in Helmen und „Rüstung“ keinen Schaden zufügen konnte, indem er eine Plastikflasche auf sie warf. Es ist unmöglich, sowohl die Berührung des Helms einer Spezialeinsatzkraft durch Kirill Shukov mit den Fingern einer Hand als Gewalt anzusehen als auch das Greifen nach der Hand eines Polizisten durch Danil Beglez. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass alle diese Vorfälle als spontane Reaktion auf die ungesetzliche Gewalt gegen die Demonstranten auftraten.

Das politische Motiv

Der oppositionelle Charakter der Demonstration belegt das politische Motiv der Verfolgung der Demonstranten vom 27. Juli. Wir glauben, dass das Strafverfahren darauf abzielt, Druck auf Teilnehmer von Protestaktionen in Moskau auszuüben.

Die festgenommenen Oppositionellen wurden faktisch bereits im Vorfeld verurteilt – dass es sich in Moskau um Massenunruhen handelt, erklärte der Bürgermeister Moskaus, Sergej Sobjanin, sowie indirekt der Pressesprecher des Russischen Präsidenten Dmitrij Peskov. Dadurch übten sie Druck auf die Sicherheitsorgane und die Gerichte aus. Das Staatsfernsehen und andere regierungsnahe Medien meldeten angebliche Massenunruhen. Sie bezeichneten die Protestierenden als vom Westen gesponsorte Verbrecher und als nicht [in der Stadt] Ansässige (d.h. als Personen, deren Rechte angeblich durch die Verweigerung der Registrierung von Kandidaten zur Moskauer Dumawahl nicht verletzt wurden).

Wir glauben, dass diese rechtswidrigen und amoralischen Handlungen der Behörden das Ziel haben, der Opposition die öffentliche Unterstützung zu entziehen, die Bürger zur Angst vor einer Beteiligung an der Protestbewegung zu zwingen, und außerdem die Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung einschränken wollen.

Die Anerkennung von Personen als politische Gefangene bedeutet nicht, dass das Menschenrechtszentrum Memorial ihren Auffassungen und Äußerungen zustimmt oder ihre Aussagen und Handlungen billigt.

4. September 2019

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