Erklärung des Menschenrechtszentrums Memorial

Zur Reaktion der Behörden auf die Kundgebungen am 26. März in zahlreichen russischen Städten hat das Menschenrechtszentrum Memorial folgende Erklärung abgegeben:

"Am Sonntag, den 26. März 2017, fanden in vielen russischen Städten Demonstrationen gegen Korruption statt, besonders große in Moskau und St. Petersburg. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. In Moskau gab es einen neuen Rekord. Hier wurden über tausend Personen festgenommen, weil sie ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrgenommen hatten.

Putins Pressesprecher bezeichnete die Kundgebungen als Provokation. Die hohe Beteiligung von Jugendlichen an diesen Aktionen erklärte er mit „finanziellen Belohnungen“, die ihnen die Organisatoren der Proteste angeblich versprochen hätten.

Wenn die Ereignisse vom Sonntag aber provoziert waren, dann ausschließlich von Seiten der Machthaber.

Zunächst dadurch, dass sie es ablehnten, eine offizielle Antwort auf die legitimen Fragen der Bürger nach der Korruption in den höchsten Machtebenen zu geben. Die Menschen gingen gerade deshalb auf die Straße, weil keinerlei deutliche Reaktion der Behörden auf Berichte zu zweifelhaften Einkünften des russischen Regierungschefs Dmitrij Medwedew erfolgt war, die die Stiftung für Korruptionsbekämpfung veröffentlicht hatte.

Eine weitere Provokation war es, dem Demonstrationszug durch die Twerskaja Straße ohne Begründung die Genehmigung zu verweigern.

Die Hindernisse, die die Machtorgane im ganzen Land während der Verhandlungen über eine Einigung über die geplanten Antikorruptions-Aktionen in den Weg legten, sind gesetzwidrig. Sie gingen eindeutig darüber hinaus, was es in einer demokratischen Gesellschaft an Einschränkungen der Freiheit friedlicher Versammlungen geben darf. Die demagogischen Hinweise der Behörden auf das „Gesetz“ bestätigen nur, dass es in Russland praktisch keine Grundfreiheiten gibt. Das Bundesgesetz „Über Versammlungen, Kundgebungen, Versammlungen, Demonstrationszüge und Mahnwachen“ in der heutigen Fassung sowie eine Reihe anderer Normativakte, die in den letzten Jahren verabschiedet wurden, haben im Grunde die durch die Verfassung garanatierten Bürgerrechte abgeschafft. Sie haben das Anmeldungsverfahren bei Demonstrationen durch eine Genehmigungsprozedur, damit im Grunde durch ein Verbotsverfahren ersetzt. Es ist keine normale Situation, wenn die Exekutivmacht willkürlich festlegt, wo man Kritik gegen sie äußern darf und wo nicht.

Allerdings ist selbst nach der geltenden russischen Gesetzgebung die Tatsache, dass von Seiten der lokalen Behörden keine Genehmigung vorlag, kein Grund, um massenhafte Festnahmen vorzunehmen und Teilnehmer an einer friedlichen Protestaktion zu verprügeln.

Das Europäische Gericht hat mehrfach festgestellt, dass für Einschränkungen der Versammlungsfreiheit triftige und unstrittige Gründe vorliegen müssen. Die Ungesetzlichkeit einer Demonstration, weil die Polizei zuvor nicht informiert wurde, rechtfertigt allein noch nicht eine Einschränkung des Rechts auf friedliche Versammlungen. Jede Kundgebung an einem öffentlichen Ort stört zwangsläufig in gewissem Ausmaß den gewöhnlichen Lebensrhythmus, sie behindert den Straßenverkehr. Aber solange die Demonstranten keine Gewalt anwenden, müssen die Behörden friedliche Versammlungen dulden.

Die Menschen, die sich auf der Twerskaja Straße versammelt hatten, zeigten keinerlei Aggression, es gab keine Gründe, sie an ihrer Meinungsäußerung zu hindern. Die mögliche Anwesenheit einzelner Provokateure und aggressiv gestimmter Personen kann und darf kein Grund sein, eine friedliche Aktion auseinander zu jagen. Im Gegenteil, die Polizei ist imstande und verpflichtet, das Recht der Bürger auf Meinungsäußerung zu schützen und ihre Sicherheit zu garantieren.

Die Berichte von Augenzeugen, Videoaufzeichnungen und die Aussagen der Festgenommenen selbst belegen eindeutig, dass die Festnahmen rechtswidrig und der Gewalteinsatz durch die Polizei unbegründet waren. Während der Festnahmen wurden viele Aktionsteilnehmer in Moskau von Polizisten unmenschlich behandelt, gegen sie wurde Gewalt angewendet. Während des Transports und des folgenden Gewahrsams der Festgenommenen in den Moskauer Polizeirevieren wurde vielfach gegen das Verbot der Folter sowie des unmenschlichen und entwürdigenden Umgangs mit ihnen verstoßen.

Jetzt folgen in Moskau sowie im gesamten Land Gerichtsverfahren gegen die Festgenommenen. Am 30. März wurden nach Angaben des Menschenrechtsportals OVD-Info allein in Moskau mindestens 65 Personen zu Haftstrafen von zwei bis 25 Tagen verurteilt.

Die Personen wurden nach dem Ordnungsrecht zur Verantwortung gezogen, sie wurden zu Geldstrafen und Ordnungshaft verurteilt, und dies ohne ein faires Gerichtsverfahren.

Auf legitime Fragen an die Regierung wurde mit der Festnahme und Verhaftung von zwölf Mitarbeitern, darunter ehrenamtlichen, der Stiftung für Korruptionsbekämpfung reagiert (einschließlich ihres Leiters Navalnyj), ebenfalls betroffen waren vier Operatoren der Online-Übertragung. Darüber hinaus wurde das Büro der Stiftung verwüstet, technische Ausrüstungsgegenstände der Stiftung wurden beschlagnahmt.

Auf die Massenproteste am 26. März reagierten die Behörden indes nicht nur mit Festnahmen, Geldstrafen und Verhaftungen. Immer häufiger werden landesweit Teilnehmer der Aktion unbegründet ins Zentrum zur Extremismus-Bekämpfung vorgeladen. Studenten wird mit Relegation gedroht. in einigen Städten, darunter Moskau, wurden wegen Vorfällen während der Protestaktionen bereits Strafverfahren eingeleitet.

Dies alles gibt Anlass, von einer neuen Welle politischer Repressionen zu sprechen. Es gilt heute, alles zu tun, um diese Welle anzuhalten und katastrophale Folgen für Gegenwart und Zukunft unseres Landes zu verhindern.

Wir sind überzeugt, dass unbegründete polizeiliche Gewalt die Rechtsordnung nicht aufrecht erhält, sondern zerstört, sie untergräbt die Achtung vor dem Recht und der Legimitität der staatlichen Institutionen. Eine Regierung, die es nicht versteht, der Gesellschaft anders als mit Polizeiknüppeln und politischen Repressionen zu begegnen, ist in der modernen Welt zum Scheitern verurteilt. Das ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Feigheit, fehlender Bereitschaft und Unfähigkeit, für die eigene Position einzustehen.

Wir rufen dazu auf, die Verfolgungen von Teilnehmern an friedlichen Versammlungen umgehend einzustellen und die Personen freizulassen, die sich in Ordnungshaft befinden. Wir fordern, die Amtspersonen zur Rechenschaft zu ziehen, die für die Verletzung der Rechte und Freiheiten der Teilnehmer an der Protestaktion vom 26. März die Verantwortung tragen."

2. April 2017

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