Der Text wurde ursprünglich publiziert in Osteuropa, 4/2011 "Amnesie International. Justitia, Memoria, Judaika", S. 55-69.

Arsenij Roginskij·: Erinnerung und Freiheit

Die Stalinismus-Diskussion in der UdSSR und Russland

Seit dem „Tauwetter“ ist der Umgang mit Stalin und dem Stalinismus ein Gradmesser für die aktuelle Politik. „Anti-Stalinisten“ plädieren für Freiheit und Reformen, „Stalinisten“ für Ordnung und den starken Staat. Die Geschichtspolitik des Putin-Regimes passt in dieses Modell. Der Rückgriff auf Stalin und den Sieg im Zweiten Weltkrieg sollte dazu dienen, Putins autoritäre Herrschaft zu legitimieren. Antidemokratische Politik ging mit der mythischen Verklärung der totalitären Vergangenheit einher. Doch der nationalstalinistische Geist droht sich gegen seine Schöpfer zu wenden. Zu dessen Abwehr sowie aus innen- und außenpolitischen Motiven bringen sich Medvedev und Putin nun als „Antistalinisten“ in Position. Die sowjetische Geschichte ist erneut Schauplatz eines Kampfes um die Zukunft des Landes.
Russland wird oft als ein „Land mit unvorhersagbarer Geschichte“ bezeichnet. Das Gleiche ließe sich mit nicht weniger guten Gründen auch von anderen Ländern und Nationen sagen, wenn nicht gar von den meisten. Im Grunde wird jedes Land, das ein nationales Trauma erlitten hat, zu einem Land mit unvorhersagbarer Geschichte. Wenn es ein schweres Trauma ist, kann dieser Zustand der Unvorhersagbarkeit sich sehr in die Länge ziehen.
Russland hat im 20. Jahrhundert nicht bloß ein Trauma erlitten. Es hat – wie Deutschland – eine nationale Katastrophe erlebt. Doch anders als in Deutschland dauerte die Katastrophe hier nicht zwölf, sondern 70 Jahre. Selbst wenn wir die fast schon unblutigen Scheußlichkeiten der Zeit nach Stalin herausnehmen und nur die Ära der massiven Terrorkampagnen von 1918–1953 betrachten, so bleiben immer noch 35 Jahre, drei mal länger als die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland.
In diesen 35 Jahren gingen Dutzende Millionen Menschen durch den Gulag. Allein aufgrund politischer Anklagen, die zumeist erfunden oder aufgebauscht waren, wurden über fünf Millionen Menschen verhaftet, über eine Million davon wurden erschossen, die übrigen in die Lager geschickt. Mehr als sechseinhalb Millionen Menschen landeten in arbeitslagerähnlichen Siedlungen im hohen Norden, in Sibirien und in Kasachstan – ganz ohne individuelle Anklage, im Zuge von Massendeportationen.
Darüber hinaus können zu den unmittelbaren Opfern des Stalinismus über sechs Millionen Bauern gerechnet werden – keineswegs nur ukrainische, wie viele meinen –, die in Folge des künstlichen Hungers der Jahre 1932–1933 umkamen. Diese Aufzählung ist alles andere als vollständig. Doch aus ihr wird bereits deutlich: Eine Analyse der heutigen Situation, die die Dauer und Dimension der damaligen Tragödie nicht berücksichtigt, bleibt notwendig oberflächlich und ungenau.

Der lange Schatten des Terrors

Terror als Herrschaftsinstrument war stets ein integraler Bestandteil der sowjetischen Wirklichkeit. Über den Stalinismus als System, dessen wichtigstes Instrument massive politische Gewalt war, ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Sehr viel weniger war bisher von der Wirkung dieses Instruments auf jene die Rede, die nicht direkt davon betroffen waren – über seinen Einfluss auf mehrere Generationen sowjetischer Menschen.
Das Haupterbe dieser Jahrzehnte ist Angst, eine permanente, im Unterbewusstsein verwurzelte Angst des kleinen Mannes vor der Allmacht des Staates. Die Staatsmacht kann mit einem machen, was immer sie für richtig hält – das wissen wir genau. Im Grunde ihres Herzens glauben viele sogar, dass der Staat das Recht hat, alles mögliche mit ihnen anzustellen. Leider haben auch die jüngeren Generationen Reste dieser mystischen Angst vor dem Staat geerbt.
Eine weitere Folge des Terrors ist die Atomisierung der Gesellschaft, eine maximale Entfremdung und ein totales Misstrauen. Jedes Gefühl von Solidarität wurde ausgemerzt, alle horizontalen Beziehungen zwischen den Menschen, selbst verwandtschaftliche, wurden vernichtet oder geschwächt. An ihrer Stelle drang der Staat in die gesellschaftlichen Beziehungen ein, das Verhältnis zwischen Staat und Individuum wurde in einem streng hierarchischen sozialen System organisiert. In der Verstaatlichung der Gesellschaft bestand eine der übergeordneten Aufgaben des Terrors, das Ziel jenes social engineering, das Stalin und seine Untergebenen betrieben.
Ein anderes Erbe ist die Xenophobie, und zwar nicht nur Xenophobie im klassischen Sinn, als Furcht vor dem ethnisch anderen Menschen, sondern als machtvolle Ablehnung all dessen, was aus der Reihe fällt. Diese Form der Xenophobie ist die Fortsetzung des unbedingten Konformismus, und die Xenophobie wiederum mündet in einen aggressiven Nationalismus.
Schließlich kommt dazu noch die überlebensnotwendige Heuchelei, die unweigerlich Zynismus und eine völlige Relativierung moralischer Werte nach sich zieht.
All dies ist die Schule des Stalinismus. (Das Vorspiel des Stalinismus, der Rote Terror der ersten nachrevolutionären Jahre, der Hekatomben Opfer forderte, sei hier der Einfachheit halber mit einbezogen.) Das Land hat diese Lektionen nachhaltig verinnerlicht: Sämtliche hier aufgezählten psychologischen Aspekte des Traumas sind im einen oder anderen Maß bis heute im kollektiven Bewusstsein präsent. Der Terror hat sich als außerordentlich erfolgreiche pädagogische Maßnahme erwiesen.

Geschichte als Gegenwartspolitik

Die schlimmsten Auswüchse des Stalinismus wurden schon bald nach dem Tod ihres Schöpfers eingestellt. Sofort teilte sich die Gesellschaft in zwei Lager, die sich unversöhnlich bekämpften, die „Stalinisten“ und die „Antistalinisten“.
Dem XX. Parteitag 1956 und Chruščevs Rede verdanken diese beiden Lager nicht ihre Entstehung, sondern allenfalls ihren Namen. „Stalinisten“ – das war damals ein Schimpfwort – nannte man die Verfechter einer harten, konservativen Linie in der Innen- und Außenpolitik. Als „Antistalinisten“ wurden ihre Gegner bezeichnet, jene, die eine Modernisierung der sowjetischen Gesellschaft anstrebten. Zu dieser Zeit gehörten nicht nur Stalin selbst, sondern auch der staatliche Massenterror und der klassische Stalinismus als ein Ensemble von politischen Methoden bereits der Vergangenheit an. Dass die konservativ-reaktionäre Strömung als „Stalinismus“ und die liberale und demokratische als „Antistalinismus“ bezeichnet wurden, bedeutet daher auch, dass historische Fragestellungen ins Zentrum aktueller politischer Diskussionen gerückt waren.
In den über fünf Jahrzehnten seither sollte sich diese außergewöhnliche Situation mehrfach wiederholen. Das Problem war nur, dass bereits unter Chruščev „von oben“ alle Versuche strikt verboten wurden, den historischen Stalinismus zu analysieren und aufzuarbeiten. Nun galt die Vorschrift, diesen als zufälligen Exzess zu sehen, als pathologische Abweichung von der Hauptlinie der geschichtlichen Entwicklung. Auf keinen Fall durfte der Stalinismus als ein historisches Phänomen betrachtet werden, das nicht zufällig entstanden war, sondern sich aus einer bestimmten geschichtlichen Logik entwickelt hatte. Es ist bezeichnend, dass der Begriff „Stalinismus“, der per se den systemischen Charakter des Phänomens andeutet, verboten war. Schon der mündliche Gebrauch in der Öffentlichkeit wurde als Zeichen der Illoyalität gewertet. Der Gebrauch des Euphemismus „Personenkult“ hingegen war erlaubt.
Die Führung unter Brežnev hielt es wiederum für das Beste, die Frage schlichtweg von der Tagesordnung zu streichen. Gute zwei Jahrzehnte lang, von 1964 bis 1987, hieß der Stalinismus weder Personenkult noch Stalinismus: Er wurde, mit wenigen Ausnahmen, schlechterdings gar nicht erwähnt. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Konfrontation zwischen den beiden Lagern verschwunden wäre. Ganz im Gegenteil: Sie spitzte sich bis zum Äußersten zu. Allerdings war sie aus dem offiziellen Diskurs vollständig verdrängt worden und blieb nur in Form vielfältiger Anspielungen in der Literatur und im Film erhalten.
Seit den 1950er Jahren gab es jedoch auch den Samizdat, die Vervielfältigung und Verbreitung von Manuskripten jenseits staatlicher Kontrolle. Hierher verlagerte sich die Diskussion über den Stalinismus; die Samizdat-Kultur war ganz vom antistalinistischen Pathos durchdrungen. Es war gerade die Diskussion über den Stalinismus, in deren Umfeld sich jene zahlenmäßig nicht große, doch überaus aktive Gemeinschaft zu konsolidieren begann, deren Mitglieder später Dissidenten genannt wurden. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erschienen im Samizdat Texte, die gegen aktuelle politische Verfolgungen protestierten, Texte, die zum Stalinismus als solchem scheinbar in keinem unmittelbaren Zusammenhang standen. Doch auch in diesen Texten war der Gedanke an die tragische jüngste Vergangenheit als Grundlage der akuten Besorgnis der Bürger stets präsent. So hieß es im „Bürgeraufruf“, einem Flugblatt von 1965, das zur Teilnahme an einer Demonstration zur Verteidigung der Verfassung aufrief und das als Geburtsurkunde der Bürgerrechtsbewegung in der UdSSR gilt:

In der Vergangenheit hat die Gesetzlosigkeit Millionen sowjetischer Bürger das Leben oder die Freiheit gekostet. Die blutige Vergangenheit mahnt uns zur Wachsamkeit in der Gegenwart.

In der Sowjetunion war mithin der gegenwärtige Kampf für staatsbürgerliche Freiheit untrennbar mit dem „Kampf um die Geschichte“ verbunden, mit der Bewahrung und Aufarbeitung der Erinnerung an die Vergangenheit, vor allem an den Stalinschen Terror.

Zweierlei Erinnerung

Die Erinnerung an den Stalinismus teilte sich dabei auf lange Zeit, über mehrere Jahrzehnte, in zwei Stränge. Den einen Strang bildete die persönliche Erinnerung, die Erinnerung in der Familie, die auf der Lebenserfahrung der Opfer des Terrors und ihrer Angehörigen beruhte. Sie war latent und wurde als verbotenes oder halbverbotenes Wissen empfunden. Diese Erinnerung wurde nicht „plakatiert“, nicht nach außen getragen, sie blieb im Kreis enger Freunde und Verwandter, und man behütete die Kinder vor ihr. Diese Erinnerung war gegenständlich, faktographisch und äußerst konkret. Eine Analyse oder ein Verstehen gab es kaum. Der zweite Strang bestand in der dissidentischen Reflexion – in Memoiren, deren Autoren es wagten, sie im Samizdat zu veröffentlichen, in Geschichtspublizistik, Übersetzungen westlicher Forschungsarbeiten, Romanen und Gedichten.
Leider gab es zwischen diesen beiden Strängen kaum Überschneidungen – außer in der Zeit der Perestrojka: Zwischen 1987 und 1989 ergoss sich ein Strom von bis dahin verbotenen Themen auf die Seiten der Presse. Dieser Strom speiste sich sowohl aus der tabuisierten familiären Erinnerung als auch aus der dissidentischen Reflexion. Unter den Problemen, die damals landesweit heftig diskutiert wurden, auch auf Kundgebungen mit Tausenden von Teilnehmern, spielten historische Fragestellungen eine Schlüsselrolle.[1] Es schien, als sei zumindest in Bezug auf den Stalinismus ein nationaler Konsens bereits erreicht oder stehe unmittelbar bevor. Dass die Staatsmacht mitnichten heilig und die UdSSR keineswegs eine belagerte Festung sei, dass Russland keine Eroberung von außen drohe und kein „Sonderweg“ zustehe (sondern dass es im Gegenteil den gleichen Weg demokratischer Entwicklung beschreite wie die andern europäischen Länder auch), und schließlich, dass der sowjetische Terror durch nichts zu rechtfertigen sei, war damals vielleicht nicht die allgemeine, so doch die vorherrschende Auffassung.
Natürlich interessierte sich die Masse der Bevölkerung nicht für die historischen Probleme als solche. Das explodierende Interesse an der sowjetischen Geschichte hing vielmehr mit der aktuellen Politik zusammen, insbesondere mit der Frage nach der Legitimität des kommunistischen Regimes, das ja für die massenhaften Verbrechen in der Vergangenheit verantwortlich war. Das war mit ein Grund, warum Gorbačev mit seiner Bewegung zur „Erneuerung des Sozialismus“ scheiterte: Indem er den Stalinismus verurteilte, sich aber nicht vom kommunistischen Regime abgrenzte, sägte er den Ast ab, auf dem er saß. Zu seiner Ehrenrettung sei allerdings gesagt, dass ihn die Sorge um sein eigenes politisches Überleben nicht aufhielt.
Während der Perestrojka fielen also die Wiederbelebung der Erinnerung und die Bewegung für politische und bürgerliche Freiheit vorübergehend zusammen. Doch die Aufarbeitung der Vergangenheit war schwieriger als erwartet. Bereits in den 1990er Jahren bestand der Konsens aus der Perestrojka-Zeit im vollen Umfang nur noch im Milieu der liberalen Intelligenz. Warum?
Zunächst einmal war es schwierig, die typisierten Rollen von Übeltätern und Gerechten unter den Akteuren des historischen Geschehens zu verteilen. In der sowjetischen Geschichte fanden sich keine Kräfte, denen man die Funktion des absoluten Bösen und des absoluten Guten zuweisen konnte. Für das kollektive Bewusstsein ist dies aber eine Notwendigkeit: Um die historische Tragödie zu bewältigen, müssen sich die Menschen mit einer dieser Rollen identifizieren können. Wünschenswerterweise natürlich mit dem Guten, obwohl man sich notfalls, wie das deutsche Beispiel zeigt, auch mit dem Bösen identifizieren kann – um sich fortan gerade davon abzugrenzen. Insofern waren die verwischten Grenzen zwischen „Opfer“ und „Täter“, die für viele Bereiche des sowjetischen Terrors charakteristisch sind, von fataler Bedeutung. Dieses diffuse Bild hinderte die Öffentlichkeit daran, sich jenen Ausgangspunkt zu schaffen, jenes moralische Koordinatensystem, von dem aus sie über die Vergangenheit hätte urteilen können.
Das kollektive Bewusstsein hat die mitfühlende Erinnerung an die Opfer des Terrors relativ leicht integriert. Doch es war weder imstande, darüber nachzudenken, welche Kräfte hinter diesem Opfergang standen oder für wen oder was die Opfer gebracht wurden, noch auch nur, das Verbrechen Verbrechen zu nennen. Wie sich herausstellte, war es leichter, das nationale Desaster als eine Art Naturkatastrophe aufzufassen, für die niemand Verantwortung trug, als den Staat und seine Führer für kriminell zu halten.
Ein „Urteil der Geschichte“ hat es nicht gegeben und konnte es auch nicht geben, da die Kläger nicht sicher waren, wer eigentlich der Angeklagte war.
Noch eines ist anzumerken: Im Unterschied zu den Nazis, die hauptsächlich „Fremde“ umbrachten – Juden, Polen, Russen –, hat der sowjetische Terror vor allem die „eigene“ Bevölkerung dezimiert – eine Einsicht, die dem Denken widerstrebt.
Die Unfähigkeit, die Hauptrollen in der Erinnerung an den Terror eindeutig zu verteilen, die Pronomina „wir“ und „sie“ zu verorten und sich vom Bösen abzugrenzen, verstärken den traumatischen Charakter der nationalen Erinnerung. Entsprechend leichter fällt der Umgang mit der Vergangenheit Russlands westlichen Nachbarn, von Polen bis ins Baltikum: Das sowjetische Regime gilt hier als ein von außen importiertes, „fremdes“ oder einfach als Besatzungsregime, und umso leichter fällt die Identifikation mit den Opfern, den Widerstandskämpfern oder beiden, nie aber mit den Tätern. Zwar stimmt diese Identifikation mit dem historischen Wissen nicht immer überein, aber hier ist nicht von Wissen die Rede, sondern von Erinnerung.[2]

Erinnerung als Politik: Freiheit vs. Ordnung

In Russland war der Kampf um die nationale Erinnerung von Beginn an ein politischer. Stalinisten respektive Antistalinisten identifizierten sich auf der einen Seite mit der Idee der „Ordnung“, auf der anderen mit der der „Freiheit“. Die Brežnev-Regierung war natürlich an der „Ordnung“ orientiert: Sie war stalinistisch nicht nur von ihrer Genealogie und ihren Institutionen her, die sie aus der Stalinzeit geerbt hatte, sondern auch ihrem Wesen nach, allerdings natürlich ohne den Massenterror.
An der Schwelle der 1990er Jahre gewann – so schien es damals – die Idee der Freiheit die Oberhand, sowohl in der Regierung, als auch in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Doch der kurz darauf folgende Zusammenbruch der UdSSR, der wirtschaftliche Schock, das politische Chaos und die innere Krise der neugeborenen Demokratie in Russland führten dazu, dass viele Anhänger der „Freiheit“ auf die Seite der „Ordnung“ wechselten. Die antistalinistische Stimmung schwächte sich ab. Die Elite unter El’cin kümmerte sich darum jedoch wenig – sie war nur mit dem Aufbau des Marktes beschäftigt, in der Annahme, dass alles andere sich von selbst regeln würde.
Dabei unterschätzte sie besonders die Folgen des Zerfalls der UdSSR. Wie der wirtschaftliche Kollaps und der Beschuss des Parlaments 1993 einen katastrophalen Verlust für das Ansehen der Demokratie bedeuteten, so führte das Ende der Sowjetunion zu einem dramatischen Identitätsverlust für die Bevölkerung des größten Teilstücks der ehemaligen sowjetischen Zivilisation, der Russländischen Föderation: Das einstige „Sowjetvolk“ war obsolet geworden, doch einen Ersatz dafür hatte niemand parat. Auf der Suche nach einem „Wir“ wandten sich viele deshalb wieder der sowjetischen Vergangenheit zu. Die Erinnerung an die blutigen und schmutzigen Seiten der Geschichte wurden dabei verdrängt oder verleugnet. Im Bewusstsein der neuen Generation, die ihre Sozialisation in den 1990er Jahren erfuhr, nahm die sowjetische Vergangenheit, an die sie sich kaum noch erinnern konnte, leicht Züge eines mythischen „goldenen Zeitalters“ an. Die zweite Hälfte der 1990er Jahre war denn auch geprägt durch einen massenhaften Wandel gesellschaftlicher Werte: Liberale Einstellungen wurden marginalisiert, die Erinnerung an den Terror aus dem nationalen Bewusstsein verdrängt.

Neue staatliche Geschichtspolitik

Die Regierung Putin, die auf der Welle dieser neuen Stimmungen an die Macht kam, hat die politische Demokratie und einige bürgerliche Freiheiten abgeschafft oder zumindest drastisch eingeschränkt. Allerdings war die Entwicklung Russlands von der Demokratie hin zum Autoritarismus keineswegs nur der Regierung Putin anzulasten; sie war auch durch den Verfall der russländischen Demokratie bedingt und wurde von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung gutgeheißen.[3] Diese Entwicklung war von einer erneuten Umdeutung der sowjetischen Geschichte in einem der Perestroika entgegengesetzten Geist begleitet. Auch sie war keine Erfindung von Putins Team, sondern in den Tiefen der postsowjetischen Gesellschaft herangereift. Putins Ideologen haben sie lediglich artikuliert.
Die Politik der Einschränkung von Freiheit und Demokratie lief in vielem – so der Imitation demokratischer Verfahren, der Abhängigkeit der Gerichte, der fehlenden Möglichkeit freier gesellschaftlicher Aktivität – auf eine Art Wiederbelebung sowjetischer politischer Praktiken hinaus und verlangte insofern geradezu nach einer Rehabilitierung der sowjetischen Vergangenheit.
Dazu kam, dass nicht nur die russische Bevölkerung einen Mangel an nationaler Identität spürte, auch die neue Staatsmacht litt nach dem Herbst 1993 an einem ständigen Mangel an Legitimität (und sie tut dies, mit zunehmender Empfindlichkeit, bis zum heutigen Tag). Um diesen Mangel zu kompensieren, griffen beide auf das Bild von der großen Vergangenheit des Großen Russland zurück, dessen Erbe das heutige Russland ist. Unter El’cin war der Bezugspunkt vor allem das vorrevolutionäre Russland ­mit Figuren wie Peter dem Großen, Alexander II. und dem reformorientierten Ministerpräsidenten Stolypin. Doch bereits in den 1990er Jahren verschmolz die Idee vom Großen Russland im kollektiven Bewusstsein allmählich und unmerklich mit der Sowjetzeit, insbesondere der Stalinära. Mit Putin beschleunigte sich dieser Prozess und wurde zum Bestandteil einer für das postsowjetische Russland ganz neuen Erscheinung, einer systematischen staatlichen Geschichtspolitik.
Die Ausrichtung dieser Geschichtspolitik manifestiert sich vor allem im Umgang mit Symbolen. So wurde Ende 2000 die alte sowjetische Nationalhymne in Russland wieder eingeführt – neu redigiert und von eindeutigen Anachronismen wie dem Verweis auf die Kommunistische Partei gesäubert. Die Rote Flagge kehrte in die Armee zurück. Eine 1991 entfernte Gedenktafel an der Lubjanka, dem Sitz des FSB, die an den langjährigen KGB-Chef Andropov erinnert, wurde 2000 wieder angebracht. Anfang der 2000er Jahre war in der Regierung immer häufiger davon die Rede, dass es zu viele zu unterschiedliche Geschichtsbücher gebe und dass ein Geschichtsbuch zu erstellen sei, das „die patriotische Erziehung und den historischen Optimismus“ fördere. 2003 traf sich das Staatsoberhaupt mit russischen Historikern (schon dieser Umstand ist bezeichnend!) und erklärte wortwörtlich:

Damals sollten die Historiker das Negative betonen, weil die Aufgabe war, das alte System zu zerstören. Nun haben wir eine andere, eine aufbauende Aufgabe. Und dabei muss die Kruste und der Schaum, die sich über die Jahre gebildet haben, beseitigt werden.

Anderthalb Jahre später nannte Putin in einer Ansprache an die Föderale Versammlung den Zusammenbruch der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe des [20.] Jahrhunderts“. Solche Aussagen sind fertige Formeln zur Konstruktion nationaler Erinnerung.
Eine wichtige Rolle für die Bemühungen um ein positives Bild der sowjetischen Geschichte spielte naturgemäß die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg.[4] Er war das einzige Ereignis in dieser Geschichte, dessen generelle Bewertung in der öffentlichen Meinung immer einhellig war, obwohl die Dinge auch hier nicht so einfach liegen, wie es auf den ersten Blick scheint: Die reale Erinnerung an den realen Krieg, und auch die Erinnerung, wie sie sich in den Bildern der Literatur und des Films der 1960er Jahre manifestiert hat, war deutlich antistalinistisch. (Nicht umsonst hatte bereits Chruščev auf dem XX. Parteitag einen guten Teil seiner Rede der Verantwortung Stalins für die militärischen Niederlagen gewidmet.)
Gleichzeitig figurierte in der Erinnerung an den Krieg ein absolut Böses – die nazideutsche Aggression – und alles, was sich diesem Bösen entgegengestellt hatte, ließ sich folglich leicht als absolut Gutes darstellen. Und was, wenn nicht die Erinnerung an große Ereignisse, konnte schließlich besser als Fundament für das neu entstehende nationale (Selbst)Bewusstsein dienen?
Feierlich wie noch nie in postsowjetischer Zeit wurde 2005 das Jubiläum des Sieges begangen. Die landesweiten Gedenkveranstaltungen waren nahezu ausschließlich dem Sieg gewidmet, dem Sieg und nur dem Sieg. Die Frage, um welchen Preis dieser Sieg errungen wurde, kam nicht einmal in Ansätzen vor, ebensowenig die Fehler und Verbrechen der sowjetischen Führung, die zu den Katastrophen von 1941/42 geführt hatten, die fürchterlichen militärischen Verluste, die Millionen Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, die Millionen Zwangsarbeiter, Zivilisten, die von den Besatzern gewaltsam zur Arbeit nach Deutschland verschleppt wurden, und die Millionen sowjetischer Bürger, die während der Kriegsjahre in die entlegenen Regionen der Sowjetunion deportiert wurden. Das alles passte schlecht in das holzschnittartige Bild, das der Bevölkerung als nationale Geschichte präsentiert werden sollte.
An die Stelle der vielschichtigen, vorwiegend tragischen Erinnerung an den Krieg setzte die offizielle Geschichtspolitik deshalb die Erinnerung an einen einzigen Tag, den Tag des Sieges. „Russland ist ein Land der großen Siege, ein Land der Sieger“, so lautete die Grundformel.
Putins Projekt: Identität aus dem Ruhm von gestern
Im Großen und Ganzen erwies sich das „Putin-Projekt“ zur Konstruktion einer nationalen Identität als recht erfolgreich. Der massiven Propaganda im Fernsehen und der neuen (beziehungsweise in vielerlei Hinsicht alten) Geschichtsrhetorik der Regierung gelang es, im kollektiven Bewusstsein eine Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Diese Verknüpfung sah so aus:
·        Im Land herrscht wieder Ordnung.
·        Wir sind wieder im Besitz einer ruhmreichen Vergangenheit, in der wir Russen die Guten, die Helden sind: Wir haben 1945 die Menschheit gerettet; wir, das sind die großen Bauprojekte der 1930er Jahre, die Bezwingung der Arktis, die Erfolge bei der Eroberung des Weltraums.
·        Im Ergebnis haben wir zu unserer Heimat, dem Großen Russland, und damit auch zu uns selbst zurückgefunden. Wir sind jetzt wieder Untertanen einer Großmacht, vor der alle Respekt haben, und nicht irgendwelche undefinierbaren Bürger irgendeiner demokratischen Gesellschaft, die ja, wie sich herausgestellt hat, zu nichts nütze ist.

Zusammen mit diesem Nationalstolz lebten die alten sowjetischen (und in vielem auch vorsowjetischen) Stereotype wieder auf und verfestigten sich, natürlich wiederum nicht ohne Zutun der Regierung: Die Vorstellung vom Westen als – heute wie früher – Feind und Quelle allen Unglücks für Russland, von einem Westen, der das Land in den 1990er Jahren fast in die Knie gezwungen hätte; von einer „fünften Kolonne“, die im Auftrag dieses Feindes agierte; von der Feindseligkeit (oder als Variante: der dreisten Undankbarkeit) der Nachbarländer.
Gleichzeitig wuchs scheinbar fast von selbst, ohne Anstoß „von oben“, die Beliebtheit Stalins – eines Stalins, der nicht als Mörder und Lenker des Terrors gesehen wurde, sondern als weiser Staatsmann, großer Modernisierer und vor allem als Sieger im Krieg. Natürlich war das nicht der reale, „historische“ Stalin, sondern sein Mythos.
Heute hält rund ein Drittel der Bevölkerung Stalin für die herausragendste Gestalt der Geschichte Russlands. Dies ist eine zwangsläufige Folge der staatlichen Geschichtspolitik des vergangenen Jahrzehnts. Das bedeutet nicht, dass Putin und seine Ideologen die reale Figur Stalin oder den historischen Stalinismus bewusst aufs Podest heben wollten – sie suchten lediglich in der sowjetischen Geschichte nach Rechtfertigungen für ihren autoritären und antidemokratischen politischen Kurs. Nun aber war der Geist aus der Flasche. Der grundlegende Zusammenhang zwischen liberalen Werten und der Aufarbeitung der historischen Tragödie der Sowjetzeit kam einmal mehr mit aller Deutlichkeit zum Vorschein, diesmal jedoch umgekehrt: als Zusammenhang zwischen antidemokratischer Politik und mythischer Verklärung der totalitären Vergangenheit.
Bis zum Anfang des vergangenen Jahrzehnts war der Stalinismus, sowohl als politische Weltanschauung als auch als Bewertung einer bestimmten historischen Epoche, noch nie in angemessener Weise von seinen Adepten reflektiert worden. Zumal seit der Perestrojka war es unüblich, sich offen zu ihm zu bekennen. Heute dagegen hat der Stalinismus nicht nur seine Propagandisten gefunden, sondern auch seine Ideologen. Er ist zu einer relativ klar umrissenen politischen Weltanschauung geworden, die ihren festen Platz im Spektrum der russischen politischen Ideologien hat.
Das Bild Stalins wird in vielen Büchern und öffentlichen Auftritten, nicht zuletzt im Fernsehen geschaffen, von Literaten und Historikern, die man am korrektesten wohl als „neue Stalinisten“ bezeichnen sollte, die aber keineswegs alle überzeugte Anhänger der kommunistischen Idee sind. Im Gegenteil, unter ihnen sind nicht wenige Antikommunisten, die Stalin als Zerstörer des Leninschen Bolschewismus und Erneuerer eines nationalen Russland sehen. Ihr Stalinismus reduziert sich auf die Rechtfertigung des Terrors als historischer Notwendigkeit auf dem Weg zu staatlicher Größe, was übrigens ein Bedauern für die Opfer dieser „Notwendigkeit“ nicht ausschließt. Das größte Verdienst Stalins sehen sie im Aufbau einer bedrohlichen Supermacht, welche die übrige Welt vor Furcht erzittern lässt. Vom ideellen Erbe des „historischen Stalinismus“ sind für sie vor allem die Allmacht des Staates, die nationalistischen Tendenzen und die Grundthese von der „feindlichen Umzingelung“ wichtig.
Oft kommt der moderne Stalinismus ganz ohne kommunistische oder auch demokratische Rhetorik aus und stützt sich ausschließlich auf eine mythisch verklärte Erinnerung an die sowjetische Vergangenheit.

Fragmentierte Erinnerung

Einige Worte zur Erinnerung selbst, einer Erinnerung an den sowjetischen Terror, die frei ist von aktuellen politischen Konnotationen. Wo ist diese Erinnerung nach den Umbrüchen der vergangenen zwei Jahrzehnte geblieben? Ist sie ganz verschwunden oder erneut, wie schon einmal unter Brežnev, in den Halbuntergrund abgewandert, in die persönliche und familiäre Überlieferung?[5] Weder noch.
Im Vergleich zur Brežnev-Zeit besteht die wichtigste Veränderung darin, dass die Erinnerung an den Stalinschen Terror nicht mehr nur privat ist. Sie ist ein Teil der Realität geworden,

·        durch Denkmäler und Mahnmale vor allem dort, wo Opfer von Erschießungen begraben sind, seltener an städtischen Straßen oder Plätzen;
·        durch eine Reihe von Ausstellungen, und noch mehr durch die Arbeit vieler Museen in der Provinz;
·        durch Gedenkbücher für die Opfer, die in vielen Regionen der Russländischen Föderation herausgegeben werden;
·        durch den Gedenktag für die Opfer, der alljährlich am 30. Oktober in den meisten Städten Russlands begangen wird;
·        durch die systematische Bildungsarbeit, die Hunderte Lehrer, Museumsmitarbeiter, Landeskundler oder Journalisten auf eigene Faust betreiben;
·        durch historische Monographien, Dokumentationsbände und Hunderte Einzelpublikationen zu archivarischen, historischen und landeskundlichen Themen, teils von professionellen Autoren, teils von Laien.
Eine sehr reale Dimension gewinnt diese Erinnerung auch in der Arbeit vieler gesellschaftlicher Organisationen, die sich mit der nationalen Erinnerung beschäftigen, unter anderem Dutzender regionaler Organisationen der Gesellschaft Memorial. So hat sich die Erinnerung an den Stalinismus ein bestimmtes Terrain im öffentlichen Raum bewahrt. Welcher Art ist dieses Terrain? Es ist die Peripherie.
Zum einen die thematische Peripherie: Die Erinnerung an den Terror ist all die Jahre im nationalen Bewusstsein geblieben, jedoch längst nicht an erster Stelle. An erster Stelle standen Krieg und Sieg. Dann folgten der Aufbau des Landes zur atomaren Supermacht, die Flüge in den Weltraum, das relativ gute Leben in den Jahren der Stagnation unter Brežnev. Die Repressionen und der Terror waren dagegen drittrangige Ereignisse, irgendwo neben Revolution oder Bürgerkrieg. Die Erinnerung an sie steht außerhalb des Mainstreams der sowjetischen Geschichte, des gesamtnationalen Narrativs im Sinn einer als Ursache und Folge verknüpften Abfolge allgemein bekannter historischer Ereignisse.
Daneben geht es aber auch um die geographische Peripherie: Die Erinnerung an den Terror ist in der Provinz sehr viel tiefer verwurzelt als in den Hauptstädten. (Dies gilt natürlich in erster Linie für jene Gegenden, wo es viele Lager gab und die Verbannten lebten: den Ural, Sibirien, den Fernen Osten und den Norden des europäischen Teils Russlands).
Und schließlich geht es um die Peripherie der Öffentlichkeit: Zwar stehen in vielen Städten des Landes Denkmäler für die Opfer des Terrors, doch fast überall nicht im Zentrum, sondern am Stadtrand, meist auf Friedhöfen.[6]
Darüber hinaus ist diese Erinnerung nicht in sich geschlossen, sondern fragmentiert. Sie besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Erinnerungen: an die unschuldig Verfolgten aus der eigenen Region, an die verschiedenen ethnischen, religiösen und sozialen Gruppen unter den Betroffenen. Diese einzelnen Erinnerungen sind untereinander nur schwach oder gar nicht verbunden.
Die charakteristischen Merkmale dieser peripheren, regionalisierten und fragmentierten Erinnerung spiegeln im Grunde die oben beschriebenen Schwierigkeiten Russlands wider, die traumatische Vergangenheit anzunehmen: Es ist eine Erinnerung an Opfer, nicht an Verbrechen, eine Erinnerung ohne moralische, rechtliche und gar politische Bewertung, eine sekundäre Erinnerung. An der Rekonstruktion und Bewahrung dieser Erinnerung nimmt die Gesellschaft aktiven Anteil, oft mit Unterstützung der lokalen Behörden, die föderalen Behörden dagegen treten dabei nie in Erscheinung.
Das Trauma ist noch nicht überwunden. Wir leben in einer Welt der nicht gezogenen Schlussfolgerungen, nicht nur in Bezug auf den Terror, sondern auf die sowjetische Vergangenheit insgesamt. Doch in jüngster Zeit ist Bewegung in die Auseinandersetzung gekommen.

Stalinismus heute

Die Diskussion über den Stalinismus ist wieder ins Rampenlicht gerückt, und mit ihr kehrt auch die Erinnerung an den Terror ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung zurück. In der Presse erscheinen zahlreiche Veröffentlichungen zu den wunden Punkten der sowjetischen Geschichte, zum Großen Terror, zum Hitler-Stalin-Pakt, zur Eroberung des Baltikums, zu Katyń. Darunter sind Veröffentlichungen sowohl antistalinistischer als auch prostalinistischer Ausrichtung. Im Fernsehen gibt es eine ganze Reihe von Diskussionssendungen, die die sowjetische Geschichte behandeln und die beim Publikum auf großes Interesse stoßen.
Es entstehen Initiativgruppen, die Entwürfe für gesamtnationale Museums- und Gedenkstätten für die Geschichte des Terrors und dessen Opfer vorschlagen. In diesen Gruppen sind prominente Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft vertreten.
Auch in russischen Blogs werden heftige Diskussionen über die Rolle Stalins in der russischen Geschichte geführt. Hier scheinen die stalinistischen Ansichten zu überwiegen; allerdings bestreitet die große Mehrheit derer, die Stalin verteidigen, die Terrorkampagnen als Tatsache nicht mehr. Der Streit geht nicht um Tatsachen, sondern um deren Interpretation und Bewertung.
Breit diskutiert werden auch die neuen Geschichtsbücher für die Schulen. Dem Thema Stalinismus und Terror wird darin endlich ein sichtbarer Platz eingeräumt, wobei die Grundtendenz leider meist zu einer Rechtfertigung des Stalinismus geht, der als alternativloser Weg in der historischen Entwicklung des Landes dargestellt wird.[7]
Am interessantesten ist jedoch, dass die ersten Männer im Staate plötzlich begonnen haben, sich als „Antistalinisten“ zu inszenieren. So meldete sich am Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen 2009 Dmitrij Medvedev in seinem Blog mit einer scharfen Verurteilung des Stalinschen Terrors zu Wort. Auch im Jahr darauf äußerten sich abwechselnd Medvedev und Putin aus deutlich antistalinistischer Sicht zu einer Reihe brisanter Fragen der sowjetischen Geschichte. Medvedev verurteilte den Versuch der Moskauer Stadtregierung, in der Hauptstadt zum Tag des Sieges Portraits des Generalissimus aufzuhängen, und nannte Stalin dabei öffentlich einen Verbrecher.[8] Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass weitere Stellungnahmen und vielleicht auch praktische Schritte Medvedevs in nächster Zeit folgen werden.
Was ist geschehen? Eine Hypothese lautet, dass ein gewisser Teil der Elite seit kurzem die Gefahr, die von einem Zusammenschluss von Stalinisten und Nationalisten für ihre Machtposition ausgeht, für nicht geringer hält als die einer möglichen „Orangenen Revolution“.
Noch 2000–2007 kultivierte die Staatsmacht konsequent die Mitte der 1990er Jahre entstandene Vorstellung von der glücklichen sowjetischen Vergangenheit, die untrennbar mit der Idee der „Ordnung“ und des „starken Staats“ als wichtigstem, heiligem Gut verbunden war. Diese Vorstellungen kamen der Regierung insofern zugute, als sie ihre Einschränkung der politischen Freiheit und Beschneidung demokratischer Institutionen in Russland populär machten.
Die Ideale der heutigen politischen Elite in Russland decken sich jedoch keineswegs mit dem historischen Stalinismus. Das Interesse der derzeitigen Elite beschränkt sich auf ein reibungsloses Funktionieren des autoritären Regimes, auf die Geschlossenheit der politischen Macht (möglichst unter Beibehaltung von Institutionen, die Demokratie imitieren) und die Ausschaltung jeder Konkurrenz von außen im Kampf um diese Macht, sprich: auf die eigene faktische Unabsetzbarkeit, sowie die Kontrolle über Wirtschaft und Finanzen und über die Regionen. Damit steht das Putinsche Regime im historischen Vergleich der Brežnev-Ära wesentlich näher als der Stalinschen Diktatur mit ihrem Massenterror.
Dagegen hat die Sowjetnostalgie eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung mit durchaus anderen weltanschaulichen Mustern zu tun, die dem Stalinismus wesentlich näher kommen als noch die entschiedensten etatistischen Bestrebungen der Putin-Medvedev-Regierung. Zwar trauert niemand dem Massenterror nach, doch das sakrale Bild des ewigen, großen russischen Staates, in dem Ordnung und Gerechtigkeit herrschen und der der Außenwelt Respekt und Ehrfurcht einflößt, ist sehr lebendig. Die logische Konsequenz dieser Geisteshaltung ist ein radikaler und aggressiver Nationalismus, wie er ja auch den historischen Stalinismus in dessen Spätphase kennzeichnete. Der Tschetschenienkrieg hat diese Haltung zusätzlich verfestigt.
Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang die Geschichte des 2004 eingeführten neuen staatlichen Feiertages, des Tages der nationalen Einheit, der jährlich am 4. November begangen wird, zum Jahrestag der Vertreibung der polnischen Interventen aus Moskau durch ein russisches Volksaufgebot im Jahre 1612. Mit der Einführung dieses Feiertages wollten Putins Ideologen wohl zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen ging es darum, den „kommunistischen“ Feiertag am 7. November, den Jahrestag des Oktoberumsturzes von 1917 aus dem allgemeinen Bewusstsein zu verdrängen. Zum anderen aber steht die Vertreibung der Polen auch für das Ende eines vergleichsweise kurzen, aber katastrophalen Abschnitts der russischen Geschichte, der sogenannten „Zeit der Wirren“. Der neue Feiertag sollte so die Assoziation mit dem Ende der „Wilden Neunziger“, also der El’cin-Zeit wachrufen, und suggerieren, dass sich Russland auch in den 2000er Jahren dank Putins Machtantritt „wieder von den Knien erhoben“ habe.
Doch der Plan ging nicht auf. Von allen möglichen Deutungen des neuen Feiertages setzte sich im kollektiven Bewusstsein genau eine durch, nämlich die patriotisch-xenophobe. Der Feiertag wurde von den radikalen Nationalisten in Beschlag genommen, die ihn sogleich zu einem Tag des Sieges über die Andersgläubigen und Fremdstämmigen erklärten und jetzt alljährlich an diesem Tag durch Russlands Städte ziehen, was der Regierung zusätzliche Kopfschmerzen bereitet.[9]
Die Adepten des „National-Stalinismus“ hatten Putin anfänglich unterstützt. Seine tschekistische Vergangenheit, seine aggressive Rhetorik, seine antidemokratischen Schritte, all dies nährte ihre Hoffnung, er könnte ein „Stalin heute“ werden, der das Land auf den richtigen Weg bringen würde. Doch im selben Maß, in dem die inneren Grenzen des Systems Putin zutage traten, wuchs ihre Enttäuschung: Nein, das war kein Stalin, oder wenn, dann ein zweitklassiger Stalin mit Produktionsfehlern. Er war nicht der Antiwestler, als der er gelten wollte, und auch nicht sonderlich selbstlos; schließlich wussten alle, dass Putin keineswegs arm ist und dass unter ihm Korruption und Beamtenwillkür wucherten, was es zu Stalins Zeiten – so die verbreitete Meinung – nicht gegeben hatte. Eine stalinistische Position bringt Menschen heute nicht weniger, sondern womöglich noch mehr in Opposition zu Putins Regime, als eine liberale, demokratische Haltung es tut. Der Name Stalin wird für einen beträchtlichen Teil der radikalen Opposition zu einem Wahrzeichen. Auf der Grundlage des Stalinismus vereinigt sich die nationalistische mit der kommunistischen Opposition, in der nationalistische Einstellungen ebenfalls verbreitet sind.
So wendet sich der Geist, der nur deshalb aus der Flasche gelassen wurde, um mit der russischen Demokratie fertig zu werden, nun gegen jene, die ihn beschworen haben. So erklären sich Putins und Medvedevs Bemühungen, sich in der Öffentlichkeit als Gegner des historischen Stalinismus zu inszenieren. Von hier bis zu einer konsequenten Geschichtspolitik zur Aufarbeitung des Stalinismus und zur Überwindung seiner Folgen ist es aber noch ein weiter Weg. Die beiden Führer Russlands streben eine solche Politik wohl auch nicht an, ihnen geht es nur um eine politische Abgrenzung vom radikal-konservativen Lager – und möglicherweise ein leises Werben um die Kräfte der demokratischen Opposition.
Das jedoch wäre wenig aussichtsreich. Selbst eine scharfe Verurteilung des historischen Stalinismus ist zwar eine notwendige, aber keinesfalls eine ausreichende Voraussetzung, um im Lager des „aktuellen politischen Antistalinismus“, also bei Menschen mit liberaler und demokratischer Orientierung Sympathie zu wecken. Hierzu müsste man zumindest aufhören, Versammlungen der Opposition mit Schlagstöcken auseinanderzutreiben, man müsste Chodorkovskij und andere aus den Gefängnissen entlassen und die Wiederbelebung eines politischen Wettbewerbs im Land zumindest als Ziel formulieren.
Zweifellos richtete sich Medvedevs und Putins Kritik des Stalinschen Terrors auch an ausländische Adressaten. Zwar schreckt die derzeitige russische Führung zur Sicherung ihrer Macht nicht vor einer isolationistischen, antiwestlichen Rhetorik zurück, doch eine tatsächliche außenpolitische Isolierung Russlands liegt keineswegs in ihrer Absicht. Die Botschaft an das Ausland lautet also in etwa: „Wir sind genauso Europäer wir ihr, also haltet uns nicht für irgendwelche Ungeheuer, die einen blutigen Diktator verehren.“
Auf die Stimmung in der russländischen Gesellschaft hat diese Rhetorik allerdings kaum mehr Einfluss. Die Stalinisten waren und bleiben eine mehr oder minder geschlossene politische Gruppe, die Freiheit und politische Demokratie ablehnt. Das Einzige, was sich in den letzten Jahren wirklich verändert hat, ist, dass sich die liberalen und demokratischen Kräfte auf der Grundlage des in den 1990er Jahren weitgehend vergessenen Antistalinismus wieder näher gekommen sind. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die sowjetische Geschichte ist wieder einmal zum Schauplatz politischer Kämpfe geworden. Die Anhänger der Freiheit, die politisch vielfach uneins sind, sammeln sich um die gemeinsame Aufgabe – die Überwindung des Stalinschen Erbes.
Der Antagonismus zwischen „Stalinismus“ und „Antistalinismus“ wird auf absehbare Zeit wohl eine systembildende Antinomie im russischen politischen Leben bleiben, und die Erinnerung an den historischen Stalinismus wird voraussichtlich noch für einige Jahrzehnte eine problematische, politisch brisante Erinnerung darstellen. Das heißt auch, dass jedes Mal, wenn ein Tauwetter von einem Frost abgelöst wird, die Frage nach dem Stalinismus zur letzten Rückzugslinie bei der Verteidigung von Freiheit und Demokratie wird.
Im europäischen intellektuellen Raum begegnet man zuweilen Zweifeln an der Bedeutung der Erinnerungsarbeit für die Entwicklung einer freiheitlichen Gesellschaft. Manche meinen, demokratische Werte könnten sich auch ohne Beschäftigung mit der Vergangenheit einbürgern. Für viele Länder der Erde trifft das möglicherweise auch zu – nicht aber für Russland."
Aus dem Russischen von Hartmut Schröder, Berlin



·   Arsenij Roginskij (1946), Vorsitzender von Memorial, Moskau
         Mein besonderer Dank gilt Aleksandr Daniel’, mit dem ich die zentralen Thesen erörtert habe.
         Von Arsenij Roginskij erschien in Osteuropa: Fragmentierte Erinnerung. Stalin und der Stalinismus im heutigen Russland, in: Osteuropa, 1/2009, S. 37–44. Der Text basiert auf einem Vortrag, den Arsenij Roginskij am 23. Januar 2011 im Rahmen der „Berliner Lektionen“ hielt. Die „Berliner Lektionen“ sind eine gemeinsame Veranstaltungsreihe der „Berliner Festspiele“ und der „ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius“. Den Veranstaltern sei für die Genehmigung zur Publikation der Rede gedankt. Für die Veröffentlichung wurde der Text überarbeitet, die Hinweise auf weiterführende Literatur stammen von der Redaktion.

[1]   Robert W. Davies: Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie. München 1991. – Dietrich Geyer (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Göttingen 1991.

[2]   Dazu systematisch: Der Hitler-Stalin-Pakt. Der Krieg und die europäische Erinnerung. Berlin 2009 [= Osteuropa, 7–8/2009]. – Geschichtspolitik und Gegenerinnerung. Krieg, Gewalt und Trauma im Osten Europas. Berlin 2008 [= Osteuropa, 6/2008]. – Helmut Altrichter (Hg.): GegenErinnerung: Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas. München 2006.

[3]   Dmitrij Furman: Russland am Scheideweg. Logik und Ende „imitierter Demokratie“, in: Osteuropa, 2/2008, S. 3–15. – Lev Gudkov: Rußlands Systemkrise. Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus, in: Osteuropa, 1/2007, S. 3–13.

[4]   Kluften der Erinnerung. Rußland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg. Berlin 2005 [= Osteuropa, 4–6/2005], hier v.a.: Lev Gudkov: Die Fesseln des Sieges. Rußlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg, S. 56–72. – Boris Dubin: Goldene Zeiten des Krieges. Erinnerung als Sehnsucht nach der Brežnev-Ära, S. 219–233. – Il’ja Kukulin: Schmerzregulierung. Zur Traumaverarbeitung in der sowjetischen Kriegsliteratur, S. 235–255.

[5]   Zur familiären Erinnerung: Irina Ščerbakova: Erinnerung in der Defensive. Schüler in Rußland über Gulag und Repression, in: Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag [= Osteuropa, 6/2007], S. 409–420. – Dies.: Landkarte der Erinnerung. Jugendliche berichten über den Krieg, in: Kluften der Erinnerung [Fn. 4], S. 419–432.

[6]   Über 250 Denkmäler und Gedenktafeln dokumentiert der in Zusammenarbeit mit Memorial entstandene und von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegebene Band: Erinnerungsorte an den Massenterror 1937/38. Berlin 2007. Eine Übersicht über die Gedenkstätten bietet die Homepage von Memorial:
    <http://www.memo.ru/memory/martirol/index.htm>.

[7]   Nikita Sokolov: Der ewige Karamzin. Geschichtsideologie aus dem Lehrbuch, in: Osteuropa, 1/2009, S. 83–95.

[8]   Medvedev: „Prestuplenijam Stalina protiv sobstvennogo naroda net proščenija“, in: Gazeta.SPb, 7.5.2010, <www.gazeta.spb.ru/316694-1>.

[9]   Siehe z.B. die von der nationalistischen Jugendorganisation Rossija Molodaja betriebene Website www.4november.ru.


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