Unmittelbar nach der Ermordung Estemirovas im Juli 2009 hatte Russlands Präsident Medvedev eine «rasche und umfassende Aufklärung» versprochen. Zwei Jahre später kann davon keine Rede sein.
In den ersten Monaten verfolgten die Ermittler eine Spur zu den «Siloviki», d.h. den Tschetscheninens Präsident Kadyrov unterstellten Spezialeinheiten, über deren brutale Übergriffe auf die Zivillbevölkerung  Estemirova berichtete. Aktuell recherchierte sie über eine öffentliche Hinrichtung in Akhkinchu-Borza. Motiv könnten Rache oder die Ausschaltung einer allzu kritischen Menschenrechtsverteidigerin gewesen sein. Kadyrov selbst hatte Estemirovas Arbeit mehrfach kritisiert und ihr gedroht, weiter über Menschenrechtsverletzungen zu forschen. Ohne eine DNA-Analyse der Mitglieder einer besonders verdächtigen Spezialeinheit vorzunehmen, wurde diese Version im Januar 2010 fallen gelassen.
Stattdessen nahmen die Ermittler jetzt «Bojeviki» in den Blick, d,.h. tschetschenische Untergrundkämüfer, die sich im Wald verstecken. Estemirova hatte über das Dorf Shalazhi berichtet, aus dem auffallend viele Männer, nach schwersten Misshandlungen durch Siloviki und Milizionäre, in den Untergrund gegangen waren. Als mutmaßlicher Mörder geriet Alkhazur Bashajev in den Fokus, der jedoch bei einer Spezialoperation gegen Bojeviki am 13. November 2009 getötet worden sein soll. Als Motiv wird Diskreditierung der tschetschenischen politischen Ordnung, in der für die Sicherheit von Menschenrechtsaktivisten nicht gesorgt werde, genannt — zynisch angesichts der realen Bedrohung.
Diese Version ist für die Ermittler und das politische Establishment in Russland und Tschetschenien sehr komfortabel: Man hat einen angeblichen Mörder, der selbst schon tot ist. Also wird es keinen Prozess geben. Zudem ist der angebliche Mörder selbst Feind der politischenOrdnung gewesen.
 
MEMORIAL und die «Novaja Gazeta» hegen aufgrund eigener Ermittlungen erhebliche Zweifel an dieser Version:
1. Woher sollen die Bojeviki gewusst haben, dass ausgerechnet Estemirova den anonym gehaltenen Artikel über ihr Dorf geschrieben hatte? Die Ermittler hingegen konnten dies wissen, da der Artikel auf Estemorovas Computer gespeichert war, der von ihnen beschlagnahmt wurde.
2. Die Ermittler konnten nicht nachweisen, dass Alkhazur Bashajev tatsächlich am 13.11.2009 getötet wurde. Als einziger Beweis gilt sein am Tatort gefundener, völlig unversehrter Pass. Bashajev hat indes seitdem kein Lebenszeichen mehr von soch gegeben, sodass man vermuten muss, dass er auf jeden Fall tot ist — wie er ums Leben kam, bleibt aber offen.
3. Im Auto, mit dem angeblich Estemirova entführt wurde, wurden keine Spuren von ihr gefunden.
4. Der im Auto gefundene Schalldämpfer wurde nachweislich nicht bei der Ermordung Estemirovas verwendet.
5. Der einzige scheinbar harte Beweis für Bashajevs Täterschaft ist die in seinem leerstehenden Haus gefundenen Pistole. Doch damit ist nicht erwiesen, dass Bashajev sie dorthin brachte.
Dies sind nur die auffallendsten Ungereimtheiten in der Ermittlung, die auf ein bewusstes Konstrukt schließen lassen. Kaum verwunderlich, dass sich im vergangenen Jahr nichts Neues getan hat. Skandalöserweise verweigern Ermittler und Justiz Estemirovas Schwester Svetlana und ihrem Anwalt systematisch den Einblick in die Ermittlungsakten, auch in Estemirovas Recherchen über die öffentliche Hinrichtung in Akhkanchar-Borza. Svetlana Estemirovas Anwalt hat deshalb Beschwerde am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht.
 
MEMORIAL und die «Novaja Gazeta» fordern von der Leitung des Untersuchungskomitees damit aufzuhören, die Normen der russischen Strafrechtsordnung und die Rechte der Opferseite zu verletzen.
Sie wenden sich an den Präsidenten der Russischen Föderation, Dmitrij Medvedev, mit der Bitte, die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen bei der Aufklärung des Mordes an Natalja Estemirova persönlich zu kontrollieren.
Sie fordern insbesondere Aufklärung darüber, wie genau die Tatwaffe in die Hände der Ermittler geriet.

Bearbeitet und übertragen aus dem Russischen von Andreas Decker, MEMORIAL München
17.07.2011
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