- Das 20. Jahrhundert und der „Krieg der Erinnerungen“ -

Das 20. Jahrhundert hat in der Erinnerung praktisch aller Völker Ost- und Mitteleuropas tiefe und kaum verheilende Wunden hinterlassen - durch Revolutionen, Umstürze, zwei Weltkriege, die nationalsozialistische Unterwerfung Europas und die dem menschlichen Geist unfassbare Katastrophe des Holocaust. Hinzu kommen eine Vielzahl lokaler Kriege und Konflikte mit deutlich nationaler Einfärbung, im Baltikum, in Polen, in der Westukraine, auf dem Balkan. Und es gab einen Reigen unterschiedlich ausgerichteter Diktaturen, die alle der Bevölkerung ohne Umschweife die bürgerlichen und politischen Freiheiten nahmen und ein unifiziertes, für jedermann verbindliches Wertesystem aufzwangen. In wechselnder Abfolge haben die Völker eine überwiegend ethnisch begründete und verstandene nationale Unabhängigkeit gewonnen, verloren und dann wiedererlangt – und stets fühlte sich dabei die eine oder andere Gemeinschaft beleidigt und erniedrigt.

Dies ist unsere gemeinsame Geschichte - doch jedes Volk empfindet sie und erinnert sich an sie auf seine Art. Nationale Erinnerung verarbeitet die gemeinsame Erfahrung auf jeweils eigene Weise, verleiht ihr einen eigenen Sinn. So hat jedes Volk sein eigenes 20. Jahrhundert.

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Ein „kollektives Geschichtsbild“ ist natürlich eine konventionale und abstrakte Kategorie. Doch manifestiert sich diese Abstraktion in durchaus konkreter Weise – in der öffentlichen politischen und moralischen Bewertung historischer Ereignisse, im Kulturleben, in Bildungsinhalten, in staatlicher Politik, in den interethnischen und internationalen Beziehungen.

Die Trauer über vergangene, wechselseitige Verletzungen kann die Beziehungen zwischen Völkern auf lange Zeit vergiften – wenn sich nicht Führungspersönlichkeiten wie etwa Vaclav Havel finden, der als Präsident der Tschechoslowakei – entgegen der seinerzeit vorherrschenden Haltung der meisten seiner Landsleute! - den Mut hatte, sich öffentlich bei den sudetendeutschen Vertriebenen und ihren Nachkommen zu entschuldigen. Symbolhafte Gesten dieser Art reichen wohl dennoch nicht aus, um allein schon einen Schlusspunkt unter die gegenseitigen Ansprüche der Völker zu setzen, doch können sie in bedeutendem Maße die bestehende Schärfe und Hitzigkeit abbauen. Bedauerlicherweise werden moralische Autoritäten vom Rang eines Havel nur selten Staatschef.

Wir sind uns bewusst, dass es keine letztendliche Instanz geben kann, der ein unabhängiges und unvoreingenommenes Urteil über die Geschichte zukommt. In nahezu jedem der vielfältigen Geschichtsbilder, die durch nationale Erinnerung entstanden sind, ist sowohl ein Bestreben erkennbar, das eigene Volk und jenen Ausschnitt der geschichtlichen Wahrheit zu rechtfertigen, der vordringlich diesem Volk eingängig, für dessen Nachbarn aber weniger ersichtlich ist. Unterschiede in den historischen Deutungen sind eine Realität, die zu vertuschen sinnlos und schädlich wäre. Diese Realität muss daher nicht nur berücksichtigt werden, sondern es muss auch das Bemühen geben sie zu verstehen.

Heutzutage entsteht Geschichtsstreit weniger um Fakten als um die unterschiedliche Interpretation dieser Fakten. Eine gewissenhafte Aufarbeitung der jeweiligen Ereignisse, Erscheinungen oder Prozesse verlangt vor allem ihre Betrachtung und Einordnung in den konkreten historischen Kontext. Häufig jedoch führt bereits die Festlegung des Kontextes zu Einschätzungen, die nur schwer miteinander vereinbar sind.

So erscheint angesichts der gewaltsamen Abtrennung von Vilnius und dem Wilna-Gebiet im Jahre 1920 sowie dessen späterer Annexion durch Polen die Rückführung dieser Gebiete in den litauischen Staat im Herbst 1939 als ein Akt, der der Gerechtigkeit genüge tat. Das selbe Ereignis stellt sich jedoch mit Blick auf den Molotow-Ribbentrop-Pakt mit seinen Geheimprotokollen, auf den Tod des polnischen Staates durch den Doppelschlag aus West und Ost sowie andere Realia der ersten Kriegswochen gänzlich anders dar. Eine ähnliche Vielfalt der Bewertungen ist in einer Reihe anderer Grenzverschiebungen, „Abtretungen“ und „Wiedervereinigungen“ jener Jahre angelegt.

Welche Bedeutung hat etwa der 17. September 1939 für das polnische Volk? Die einer nationalen Tragödie – es ist der Tag, an dem das Land, das sich gerade mit letzter Kraft der Hitlerschen Aggression entgegenstemmte, sich einem unvermittelten, durch nichts provozierten Einmarsch aus dem Osten ausgesetzt sah. Dies ist eine historische Tatsache, und kein Verweis, weder auf eine Ungerechtigkeit der Vorkriegsgrenzen noch eine Notwendigkeit, die westlichen Verteidigungslinien der Sowjetunion abzusichern, kann die Stalinsche Führung der Verantwortung entheben, an der Hitlerschen Aggression gegen Polen mit beteiligt gewesen zu sein.

Für einen bedeutenden Teil des ukrainischen Volkes jedoch hat dieses Datum eine eigene, zusätzliche Bedeutung – es ist der Tag, an dem die ukrainischen Gebiete zu einem geschlossenen Ganzen vereinigt wurden, wenn auch im Rahmen der UdSSR.

Haben die Ukrainer also ein Anrecht auf ein besonderes Verhältnis zu diesen Ereignissen, eines, das sich von dem der Polen unterscheidet? Ja, das haben sie. Doch haben sowohl Polen wie auch Ukrainer das Recht, dass die Unterschiede zwischen ihren jeweiligen Erinnerungen verstanden und respektiert werden.

Wie sind die Ereignisse von 1944 aufzufassen, als die Sowjetische Armee die Deutschen aus Litauen, Estland und dem größten Teil Lettlands vertrieb? Als eine Befreiung des Baltikums von den Nazis? Als eine wichtige Etappe zum endgültigen Sieg über den Nationalsozialismus? Zweifellos, und als eben dies wurden diese Ereignisse auch in der Welt wahrgenommen. In Russland ist diese Wahrnehmung besonders ausgeprägt und ist dort Teil des nationalen Selbstverständnisses geworden.

Für Esten, Letten und Litauer jedoch bedeuteten die militärischen Siege der Sowjetischen Armee darüber hinaus die Rückkehr ihrer Länder in die UdSSR, in einen Staat, der ihnen 1940 die nationale Unabhängigkeit genommen hatte. Es bedeutete die Rückkehr eines Regimes, das bereits in den 11 Monaten von Juli 1940 bis Juni 1941 durch eine Vielzahl von politisch motivierten Verhaftungen und Gerichtsurteilen, durch die Deportation Zehntausender Menschen nach Sibirien und Kasachstan und die außergerichtliche Hinrichtung von Gefangenen in den ersten Kriegstagen seine Visitenkarte abgegeben hatte. In der unmittelbaren Zukunft, die im Herbst 1944 endgültig entschieden wurde, warteten auf sie Zwangskollektivierung, neuerliche Verhaftungen und wiederum Massendeportationen.

Haben die Bürger Russlands und der anderen Länder, die Bestandteil der UdSSR waren, das Recht, auf die militärischen Erfolge der Sowjetischen Armee von 1944 stolz zu sein? Ohne jeden Zweifel: Dieses Recht wurde mit dem Blut Hunderttausender gefallener Soldaten bezahlt. Doch sollten sie - ohne den berechtigten Stolz im geringsten aufzugeben - wissen und verstehen, was diese Erfolge den Völkern des Baltikums über die Befreiung vom Nationalsozialismus hinaus gebracht haben. Diese wiederum sollten sich ihrerseits eingedenk der eigenen tragischen Geschichte daran erinnern und verstehen, was das Gedenken an den großen Kampf der Völker gegen den Nationalsozialismus für Russland, ja die ganze Welt bedeutet.

In Georgien und der Ukraine sind jüngst „Museen der sowjetischen Besatzung“ eröffnet worden. Die meisten Bürger der Russischen Föderation reagierten darauf mit Befremden und Entrüstung. In Russland wissen nur Fachleute und Historiker um die Existenz der unabhängigen Georgischen Demokratischen Republik in den Jahren 1918 – 1921 und die Versuche von 1918-1920, die unabhängige Ukrainische Volksrepublik zu schaffen, wie auch um die Rolle, die die Rote Armee bei deren Auflösung gespielt hat. In den betroffenen Ländern ist die Erinnerung an eine staatliche Unabhängigkeit im 20. Jahrhundert, und mag sie historisch auch kurzlebig gewesen sein, nie vollständig verschwunden. Es ist also nur natürlich, dass dort jetzt der Versuch einer Neubewertung der Ereignisse von 1920 und 1921 unternommen wird.

Man muss nicht mit allen Schlussfolgerungen einverstanden sein, die dabei gezogen werden. Man kann mit jenen Historikern und Juristen debattieren, die die jetzige ukrainische und georgische Staatlichkeit auf die Ereignisse von 1918 zurückführen. Man kann jenen entschieden widersprechen, die geneigt sind, die gesamte Geschichte dieser Länder vom Ende des Bürgerkrieges bis 1991 als eine Zeit der „Okkupation“ zu betrachten. Die Gesellschaft in Russland jedoch, einem Land, dem viele für gewöhnlich die Schuld an allem zuschreiben, was das kommunistische Regime verbrochen hat, muss über die Geschichtsdiskurse in den Nachbarländern im Bilde sein; sie muss mit Verständnis Position beziehen und darf über diese Diskussionen nicht hinweggehen, indem sie sich auf die Rubrik „Vermischtes“ und Karikaturen beschränkt.

Zu wünschen wäre aber auch, dass die georgische und die ukrainische Öffentlichkeit versteht: Das Ausbleiben einer automatischen Zustimmung in Russland zu den scharfzüngigen Attributen, wie sie mitunter in Georgien und der Ukraine verwendet werden, muss nicht unbedingt „Großmacht-Chauvinismus“ oder „überkommene Denkmuster eines imperialen Bewusstseins“ bedeuten.

Das Gleiche gilt für die Bewertung des bewaffneten Partisanenwiderstands gegen das kommunistische Regime, den es in den Nachkriegsjahren in der Westukraine, in Litauen, Lettland, Estland und Polen gegeben hat. Die Erinnerung an Aufstandsbewegungen ist in der Regel komplex und voll Dramatik. Sie führt unweigerlich zu einer Vielzahl unterschiedlichster Bewertungen, bis in die Extreme - die einen neigen dazu, „Freiheitskämpfer“ ohne wenn und aber zu heroisieren und andere tun sich fürchterlich schwer, sich von gewohnten Vorstellungen über „Banditen“ zu verabschieden. Für beide Ansichten können dabei mühelos Begründungen gefunden werden. Die Streitenden sind nicht in der Lage, den jeweils anderen zu überzeugen, selbst dann nicht, wenn der Streit in ein und dem selben Land geführt wird. Wenn dann aber solch erbittertem Streit noch nationale und staatliche Ambitionen beigemischt werden, lassen sich umso weniger ausgewogene, gegenseitig annehmbare Einschätzungen erhoffen. Der Wechsel von Zwist und wechselseitigen Beleidigungen hin zu einem zivilisierten Meinungsaustausch ist möglich - und er ist notwendig.

Die Liste der Beispiele, wo die Erinnerung eines Volkes im Widerspruch zu der eines anderen steht, ist lang. An diesen Widersprüchen ist absolut nichts schlimmes, ganz im Gegenteil. Wenn ihnen mit dem nötigen Verständnis begegnet wird, können sie das Geschichtsbewusstsein eines jeden Volkes bereichern und unsere Vorstellungen über die Geschichte erweitern.

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Nicht weniger schmerzlich sind diese Divergenzen in der Bewertung und im Verständnis jenes Bereiches der Geschichte, mit dem sich die Gesellschaft MEMORIAL auseinandersetzt, der Geschichte des sowjetischen Staatsterrors. Tragödien der Vergangenheit, die entweder gar nicht oder nur dem Schein nach und oberflächlich wahrgenommen und aufgearbeitet wurden, bieten eine Grundlage für neue politische und Geschichtsmythen. Sie wirken auf die nationalen Mentalitäten, entstellen diese und führen zu Konfrontation zwischen Ländern und Völkern.

In nahezu allen Ländern des ehemaligen „sozialistischen Lagers“ gedeihen heute jene Formen der historischen und politischen Reflexion, die es ermöglichen, die „eigenen“ Leiden ausschließlich als Ergebnis „fremden“ bösen Willens darzustellen. Diktatur und Terror werden vor allem als gegen die Nation gerichtet gesehen, und jene, die ihn ausübten, als „Fremde“ oder Marionetten fremder Mächte. Die Tatsache, dass sich die kommunistischen Regimes in diesen Ländern über viele Jahre hinweg nicht nur auf sowjetische Bajonette stützten, sondern auch auf bestimmte interne Ressourcen, verschwindet allmählich aus der nationalen Erinnerung.

Gleichzeitig werden die historischen und rechtlichen Bewertungen des Geschehenen maximal zugespitzt. So ist im politischen Wortschatz einer Reihe postkommunistischer Länder verstärkt der Begriff „Genozid“ im Umlauf. Wir sind uns bewusst, dass auch extreme Einordnungen dieser Art nicht selten einen Teil historischer Wahrheit in sich tragen. Doch gehen wir davon aus, dass Teilwahrheiten stets gefährlich sind, insbesondere für jene, die sie als allumfassende geschichtliche Wahrheit aufzufassen bereit sind.

Die Kultivierung eines „Opferbildes“ des eigenen Volkes oder die Erhebung des Verlustes an Menschenleben in den Rang eines nationalen Erbes sind organisch mit einer Entfremdung von Verantwortung verbunden, mit der Festschreibung eines „Henkerbildes“ in Gestalt des Nachbarn. Es ist die natürliche Folge eines reflexhaften Bedürfnisses der Menschen, die kaum zu stemmende Last der aus der Geschichte erwachsenden staatsbürgerlichen Verantwortung abzulegen. Sich jedweder Verantwortung zu entziehen und sie dem Nachbarn aufzuerlegen ist aber nicht die beste Voraussetzung, weder für Völkerverständigung noch für die eigene nationale Wiedergeburt.

Die Geschichte der zusammengebrochenen Sowjetunion ist für Russland untrennbar mit der eigenen Geschichte verbunden – so sieht es das Selbstverständnis der meisten Russen. Hierdurch, und zum Teil durch die Rechtsnachfolge der UdSSR, ist Russland für eine Reihe seiner Nachbarvölker zu einem bequemen Objekt geworden, dem sich leicht die historische Verantwortung zuschreiben lässt – das heutige Russland wird dann recht eindeutig mit der Stalinschen UdSSR gleichgesetzt und als Quelle all der eigenen nationalen Tragödien hingestellt.

Russland wiederum hat seinen eigenen Weg zur Milderung jener Bürde beschritten, die die Geschichte Völkern auferlegt hat, die den Totalitarismus durchlebt haben. An Stelle gewissenhafter Versuche, die Geschichte des 20. Jahrhunderts in all ihrer Tragik und Tragweite aufzuarbeiten, an Stelle einer ernsthaften, nationsweiten Diskussion der sowjetischen Vergangenheit erleben wir hier die Wiederauferstehung eines nur leicht veränderten sowjetischen, patriotisch begründeten Großmachtmythos, eines Mythos, der die Geschichte unseres Landes als eine Abfolge ruhmreicher heroischer Leistungen sieht. In diesem Mythos ist im Großen und Ganzen keinerlei Platz – weder für Schuld, noch für Verantwortung oder eine Wahrnehmung der Tragödie selbst. Was für eine staatsbürgerliche Verantwortung kann denn aus Heroismus und Selbstopferung erwachsen? Viele Bürger Russlands sind daher schlichtweg nicht in der Lage, sich den Grad der historischen Verantwortung der Sowjetunion gegenüber den heutigen Nachbarländern Russlands oder aber die Ausmaße der Katastrophe, die Russland selbst ereilt hat, bewusst zu machen. Sich dieser Erinnerung zu verweigern, sie durch das Bild eines Vulgär-Imperiums zu ersetzen, in dem – frei nach Schewtschenko – „Vom Moldauer bis zum Finnen, jedermann // In jedweder Sprache glücklich schweigt // Da er so in Wohlsein schwelgt“, stellt für Russland eine ebenso große gesellschaftliche Gefahr dar, wie die Kultivierung eigener nationaler Verletzungen für seine Nachbarn Gefahren birgt.

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Es sei nochmals betont: nationale Unterschiede in der Interpretation wichtiger historischer Ereignisse sind natürlich und unvermeidlich. Es geht lediglich darum, sich klar zu machen, wie man sich zu diesen Unterschieden verhält.

Selbstverständlich soll sich niemand vom eigenen Geschichtsverständnis lossagen, bloß um einer „Politkorrektheit“ zu genügen, doch darf andererseits auch nicht den Nachbarn die eigene Wahrheit aufgenötigt werden.

Es ist sinnlos, „fremde“ Erinnerung zu ignorieren, so zu tun, als gäbe es sie gar nicht. Es ist sinnlos, ihr die Berechtigung abzustreiten und jene Tatsachen und Deutungen rundweg als falsch zu erklären, auf denen sie beruht.

Die Leiden und das Unglück des eigenen Volkes dürfen nicht in eine Art moralischer Überlegenheit gegenüber anderen Völkern verkehrt werden, die vermeintlich (oder tatsächlich) weniger stark gelitten haben; diese Leiden dürfen nicht als politisches Kapital eingesetzt und dann etwa in einen Forderungskatalog an die Nachbarstaaten und Nachbarvölker umgemünzt werden.

Keinesfalls jedoch darf der Versuch unternommen werden, die Widersprüche zwischen den „nationalen Geschichtsbildern“ auszunutzen, indem die Besonderheiten der nationalen Erinnerung zum Anlass für interethnische Feindseligkeiten und zwischenstaatliche Konflikte genommen werden.

Es ist heute – ganz gleich mit welcher historischen Sicht – unproduktiv und gefährlich, die Völker in „Opfer“ und „Henker“ zu teilen und über die Vergangenheit in Kategorien „historischer Schuld“ der einen gegenüber den anderen zu urteilen.

Entscheidend ist hier weniger der Umstand, dass das moderne Rechtsdenken die Konzeption einer Kollektiv- oder gar Erbschuld für ein Verbrechen verwirft (Fragen juristischer Verantwortung von Staaten gegenüber den eigenen oder anderen Bürgern lassen wir hier unberührt). Wir sind der festen Überzeugung, dass für eine ernsthafte Aufarbeitung der Geschichte, für eine Suche nach Auswegen aus der Sackgasse historischer Widersprüche nicht die Suche nach den Schuldigen an erster Stelle stehen sollte, sondern eine staatsbürgerliche Verantwortung, die jeder Einzelne, der sich als Teil einer bestimmten historisch gewachsenen Gemeinschaft empfindet, freiwillig wahrnimmt. Falls ein Volk nicht nur durch einen aktuell gegebenen staatsbürgerlichen und politischen Alltag vereint ist, sondern auch durch eine gemeinsame Vergangenheit und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, so erstreckt sich staatsbürgerliche Verantwortung auf natürliche Weise auch auf die nationale Geschichte. Es ist staatsbürgerliche Verantwortung für die eigene Geschichte, und nicht große Leistungen oder große Katastrophen als solche, die aus einem Volk eine vollwertige Nation machen, eine Gemeinschaft von Mit-Bürgern

Diese Verantwortung ist keine Arbeit, die sich ein für alle mal erledigen lässt. Jedes Volk muss sich wieder und wieder seiner Vergangenheit zuwenden, muss sie mit jeder neuen Generation immer wieder aufarbeiten und sich erneut mit ihr auseinandersetzen, ohne sich von den bitteren und schrecklichen Seiten seiner Geschichte abzuwenden. Es muss dabei begreifen, dass andere das Recht auf eine eigene, abweichende Lesart der Geschichte haben. Jedes Volk muss darüber hinaus bestrebt sein, die gewachsenen Geschichtsbilder der Nachbarn zu erkennen und zu verstehen, sowie jene historische Realität zu verstehen, die diesen Bildern zugrunde liegt. Es gilt hier zu verstehen, nicht zu übernehmen, nicht die eigene Wahrheit durch eine fremde zu ersetzen, sondern die eigene Sicht auf die Vergangenheit zu ergänzen und zu bereichern.

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Zu unserem Bedauern verwandelt sich Geschichte zusehends in ein Instrument, mit dem kurzfristige politische Ziele verfolgt werden, zu einem Knüppel in der Hand von Leuten, denen im Kern sowohl die nationale Erinnerung anderer Völker als auch die Tragödien, die das eigene Volk erlitten hat, ja auch die Geschichte selbst gleichgültig sind. Die jüngsten Ereignisse rund um das sowjetische Soldatendenkmal in Tallinn machten einmal mehr den Mangel an staatsbürgerlicher Verantwortung deutlich, den Politiker – in Estland wie auch in Russland – aufweisen. Die Affäre um das Denkmal illustriert eindrücklich, welche Folgen unterschiedliche nationale Geschichtsbilder haben können, wenn Streit über Geschichte zu einem „Konflikt der Erinnerungen“ wird.

Natürlich finden sich immer Leute, die Konflikte dieser Art mit Blick auf die eigene politische Dividende anheizen wollen – zum Schaden des eigenen Volkes, zum Schaden anderer Völker und zum Schaden aller normalen Menschen. Doch auch die Gesellschaft kann sich von der Verantwortung für eine solche Entwicklung nicht frei machen, da derlei Konflikte nur dort möglich ist, wo ein gewissenhafter und interessierter Dialog nicht stattfindet.

Was also kann die Gesellschaft jenen überkommenen Vorurteilen, dieser gegenseitigen Intoleranz, dem Eigennutz und der Beschränktheit der Politiker entgegensetzen?

Unserer Ansicht nach besteht das einzige Mittel zur Überwindung der zunehmenden Entfremdung zwischen den Völkern in einem freien, unvoreingenommenen und zivilisierten Meinungsaustausch zu allen Fragen, in denen Differenzen über unsere gemeinsame Geschichte bestehen. Ziel dieses Meinungsaustauschs kann lediglich der Versuch sein, die jeweiligen Standpunkte besser kennen zulernen und zu verstehen. Falls wir dabei zu einer gemeinsamen Ansicht zu einem wunden Punkt in unserer Geschichte gelangen, so wäre das hervorragend. Falls nicht, wäre es auch kein Unglück – jeder bliebe zwar bei seiner Meinung, doch lernten wir dabei auch jene Bilder zu verstehen, die im Bewusstsein unserer Nachbarn vorhanden sind. Einzige Voraussetzung für einen solchen Dialog ist die Bereitschaft, die Beteiligten, die Standpunkte des Anderen zu respektieren - wie „falsch“ einem diese auf den ersten Blick auch erscheinen mögen –, das aufrichtige Interesse, diese Standpunkte kennen zulernen sowie der aufrichtige Wunsch, sie zu verstehen.

Für einen solchen Dialog braucht es entsprechende Mechanismen, ein Diskussionsforum.

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Die Gesellschaft MEMORIAL schlägt allen, die an einer inhaltlichen und in gutem Willen geführten Diskussion von Themen der gemeinsamen Geschichte interessiert sind, vor, an der Schaffung eines solchen Forums, eines Internationalen Geschichtsforums mitzuarbeiten. Wir stellen uns dieses Forum als einen freiwilligen Zusammenschluss von gesellschaftlichen Organisationen, Forschungszentren, Kultur- und Bildungseinrichtungen usw. vor, in dessen Rahmen ein ständiger Meinungsaustausch zu konfliktträchtigen Ereignissen des 20. Jahrhunderts in unserer Region geführt wird.

Es versteht sich von selbst, dass sich das Forum auch einzelnen Forschern, Publizisten und anderen Interessenten nicht verschließen wird. Wir wünschen natürlich, dass auf dem Forum die in den jeweiligen Gesellschaften „herrschenden“ Ansichten zur Geschichte ebenso vertreten sein werden wie „dissidentische“ Positionen. Ausgeschlossen sind jene Interpretationen, die auf offen menschenverachtenden, faschistischen und rassistischen Wertesystemen beruhen.

Der Zustand der nationalen Erinnerung in den Ländern Mittel- und Osteuropas ist vor allem für die Länder der Region von Interesse und Bedeutung, aber auch darüber hinaus. Das so genannte „Alte Europa“ wächst mit dem Neuen Europa zusammen. Nahezu alle Staaten der Region sind zu Mitgliedern gesamteuropäischer Strukturen geworden oder streben nach einer solchen Mitgliedschaft. Mit den Staaten halten die Probleme, Traumata und Komplexe unserer Geschichte Einzug in die europäische Kultur, die europäische Erinnerung. Die Erfahrungen der postkommunistischen Staaten (nicht nur die des „geographischen Europa“, sondern auch die Kasachstans sowie der Staaten des Kaukasus und Zentralasiens) bedeuten eine Herausforderung für alle Europäer - sie muss verarbeitet und verstanden werden. Der von uns vorgeschlagene Dialog ist lediglich Teil eines gesamteuropäischen, und letztendlich weltumspannenden Geschichtsdialogs. Darüber hinaus hatten viele Völker – in Westeuropa wie auch in Südamerika und anderen Regionen - bei der Auseinandersetzung und Aufarbeitung „ihres“ 20. Jahrhunderts ähnliche Probleme zu bewältigen wie jene, denen wir uns jetzt zu stellen haben. Es wäre daher für uns sehr wichtig zu erfahren, wie dort mit diesen Problemen umgegangen wurde und wird. Wir hoffen somit, dass die Themen und die Zusammensetzung des Forums nicht strikt auf unsere Region beschränkt bleiben werden.

Wir schlagen vor, die konkreten Formen, in denen der Dialog stattfinden soll - eine eigene Internet-Seite, eine Reihe bi- und multilateraler Konferenzen zu bestimmten Themen, an denen nicht nur Fachhistoriker teilnehmen sollen (die ja ohnehin auf die eine oder andere Art den Meinungsaustausch innerhalb der akademischen Gemeinschaft gewährleisten), sondern auch Juristen, Soziologen, Journalisten, Aktivisten gesellschaftlicher Organisationen etc. –, gemeinsam mit all jenen auszuarbeiten, die unsere Idee unterstützen und sich an ihrer Verwirklichung beteiligen wollen. Dies gilt auch für die „Produkte“ der Forumsarbeit, bis hin zur Herausgabe gemeinsamer Periodika oder der gemeinsamen Erstellung von Lehrbüchern für die Sekundarstufe, durch die Jugendliche in jedem unserer Länder etwas über die „nationalen Geschichtsbilder“ ihrer Nachbarstaaten und Nachbarvölker erfahren können.

Das von uns vorgeschlagene Geschichtsforum wird zweifellos das Verständnis zwischen den Teilnehmern - den individuellen wie auch den institutionellen - aus den jeweiligen Ländern mit ihren unterschiedlichen Traditionen der Geschichtsdeutung fördern. Wir hoffen jedoch, dass es sich darüber hinaus auch zu einem Weg der Verständigung zwischen unseren Ländern und Völkern entwickelt.

Wir fühlen uns verpflichtet, diesen Versuch zu unternehmen, damit unsere gemeinsamen tragischen Erinnerungen die Völker einander näher bringen und sie nicht entzweien. Dieses Ziel ist erreichbar, wenn es uns gelingt, die Geschichte gemeinsam aufzuarbeiten, und nicht jeder für sich allein.

März 2008

(Übersetzung: Hartmut Schröder)


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