Sehr verehrte Damen und Herren,

Wir, die Vertreter von Menschenrechtsorganisationen aus der Russischen Föderation, erachten es als notwendig, Ihnen unsere Vorschläge in Bezug auf das Format und die Tagesordnung der Menschenrechtskonsultationen zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen Union darzulegen.

Wir begrüßen die Einrichtung dieser konsultativen Treffen und sind überzeugt, dass sie zu einem überaus wichtigen Instrument zum Schutz und zur Wahrung der Menschenrechte, zur Festigung der Stabilität und zur Beförderung demokratischer Werte im europäischen Raum werden können. Sowohl Russland als auch die Europäische Union müssen daher an einem offenen, produktiven Dialog zu den aktuellen Menschenrechtsfragen sowie an einer neuen Zusammenarbeit zur schrittweisen Lösung anstehender Probleme interessiert sein. Dieser neue Konsultationsprozess erscheint uns angesichts der in den vergangenen Jahren zu beobachtenden Schwächung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen als dem traditionellen Instrument zur gegenseitigen Überwachung bei der Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards von besonderer Bedeutung.

Gleichzeitig erfüllt uns mit Besorgnis, dass die erste Runde der Konsultationen, die am 1. März 2005 in Luxemburg stattfand, unzureichend vorbereitet war und keinerlei Fortschritte erbrachte. Offizielle Vertreter mehrer europäischer Staaten wiesen in Gesprächen mit russischen Bürgerrechtlern darauf hin, dass das Luxemburger Treffen praktisch "inhaltsleer" gewesen sei und zu keinerlei nennenswerten Ergebnissen geführt habe. Während Teilnehmer von Seiten der Europäischen Union erklärten, dass für die EU allein das Zustandekommen des Luxemburger Treffens wichtig war und die Tatsache, dass es den Beginn regelmäßiger Konsultationen bedeutete, veröffentlichte die Russische Regierung zu den Konsultationsergebnissen einseitig eine mit der EU nicht abgestimmte Presseerklärung, aus der hervorging, dass die EU mit der Lage der Menschrechte in Russland vollauf zufrieden sei. Soweit uns bekannt ist, entspricht diese Behauptung nicht der Wirklichkeit. Angesichts des bilateralen Charakters der Konsultationen hoffen wir, dass künftig Dokumente zu den Ergebnissen der Treffen durch beide Seiten abgestimmt und gemeinsam veröffentlicht werden, um ein reales und möglichst vollständiges Bild der Treffen wiederzugeben. Falls die folgenden Treffen im "Luxemburger Format", ohne eine hinreichend substantielle inhaltliche Vorbereitung erfolgen sollten, würde die Menschrechtsdiskussion zwischen Russland und der EU praktisch aus dem öffentlichen Raum heraus verlagert und könnte sich zu einer "Konsultation um der Konsultation Willen" wandeln, also lediglich zu einem Imitat eines inhaltlichen Dialoges. Dies wäre kontraproduktiv, und es erscheint uns daher wichtig, dass zu den Ergebnissen der Treffen ausführliche Communiques verfasst werden, die die jeweils behandelten Fragen, die Positionen der beiden Seiten zu diesen Fragen, eine kurze Darstellung des Verhandlungsverlaufs und die Ergebnisse der Beratungen enthalten könnten, all das, was bei der Diskussion erreicht oder eben nicht erreicht wurde.

Darüber hinaus sind wir überzeugt, dass russische und internationale Nichtregierungsorganisationen (NRO), die zu Menschenrechtsfragen arbeiten, bei dem Dialog zwischen Russland und der EU zu Fragen der Wahrung der Grund- und Menschenrechte eine bestimmte, der internationalen Praxis entsprechende Rolle spielen sollten. Diese Praxis wird bei Fragen des Schutzes und der Wahrung der Menschenrechte zunehmend durch die Zusammenarbeit zwischen den Staaten und den Institutionen der Zivilgesellschaft geprägt. Vor allem würden die Konsultationen durch die Beteiligung von NRO an Gewicht und Offenheit gewinnen und ergebnisorientierter werden. Zu diesem Zweck schlagen wir folgendes Format einer Einbeziehung von NRO in den Konsultationsprozess vor:

- Russische und internationale NRO sollten über effektive Kanäle verfügen, um den Regierungen der Russischen Föderation und der Europäischen Union vorab ihre Vorstellungen über die Tagesordnung anstehender Konsultationen vorlegen zu können, und zwar rechtzeitig, vor Verabschiedung der Tagesordnung.
- Nach Verabschiedung der Tagesordnung einer Konsultationsrunde sollten russische und internationale NRO die Möglichkeit haben, den beteiligten Seiten zu konkreten Fragen der Tagesordnung ihre eigenen Materialien vorzulegen.
- Es sollte bei den Konsultationen ein Verfahren zur Akkreditierung von Vertretern russischer und internationaler NRO geben. Die Akkreditierung könnte bei den einzelnen Treffen jeweils denjenigen NRO erteilt werden, die zu einer der Fragen auf der Tagesordnung Materialien vorgelegt haben und von mindestens einer der Dialogseiten zur Teilnahme empfohlen wurden. Auf Vorschlag einer der Dialogseiten kann Experten der NRO die Möglichkeit zur Teilnahme an den Diskussionen gegeben werden.
- Unmittelbar vor der jeweiligen Konsultationsrunde sollte von den Organisatoren ein eigenes Arbeitstreffen mit den Vertretern der akkreditierten russischen und internationalen NRO abgehalten werden, bei dem Form und Ablauf der Diskussionsbeiträge abschließend besprochen werden.
- Es sollte zu den Ergebnissen jeder Konsultationsrunde ein Briefing für die russischen und internationalen NRO durchgeführt werden, bei dem die Vertreter der NRO die Gelegenheit erhalten, Fragen an die Vertreter der Delegationen zu richten.

Gegenwärtig wird die zweite Konsultationsrunde vorbereitet, die für den Herbst 2005 vorgesehen ist. Es ist nur natürlich, dass wir, die Vertreter von Menschenrechtsrechtsorganisatoren aus der Russischen Föderation, durch die in den letzten Jahren erfolgte Verschlechterung der Menschenrechtssituation in der Russischen Föderation in besonderem Maße beunruhigt sind. Deshalb halten wir es für vordringlich, dass folgende drei Fragen, die in unserem Land in besonderem Maße nach einer Lösung verlangen, in die Tagesordnung des kommenden Treffens aufgenommen werden:

1. Einhaltung der Menschrechte durch die Mitarbeiter der Sicherheitsorgane sowie die Reform des Polizei- und Justizsystems
Dieses Problem ist sowohl für Russland als auch für die EU aktuell. Es wäre für die russischen Behörden von besonderem Nutzen, sich mit den Erfahrungen, die bei den Reformen in Frankreich und Großbritannien gemacht wurden, vertraut zu machen, um eine Minimierung der Willkür und eine wirksame Modernisierung des Polizei- und Justizapparates zu erreichen. Für Russland erhält dieses Thema durch eine Reihe von Umständen eine besondere Aktualität. In den letzten Jahren haben russische Medien und Menschenrechtsorganisation eine Vielzahl von Bürgerrechtsverletzungen zur Sprache gebracht, die von Angehörigen der Miliz und anderer Sicherheitsorgane begangen wurden. Hierzu gehörten u.a. willkürliche Festnahmen, Folter, grausame und erniedrigende Behandlung, Missachtung des Rechts auf Leben. Auch die Führung Russlands hat ihre Sorge angesichts der von Seiten der Miliz ausgehenden Willkür zum Ausdruck gebracht. In den Jahren 2004 und 2005 ist es dennoch in mehreren Regionen der Russischen Föderation zu Masseneinsätzen von Ordnungskräften gekommen, die an die zu trauriger Berühmtheit gelangten "Säuberungen" in Tschetschenien erinnern. Diese Einsätze wurden von ungesetzlichen Festnahmen, körperlichen Misshandlungen und erniedrigender Behandlung der Bevölkerung begleitet. Seit dem Frühling dieses Jahres liegen den Menschrechtlern in der Russischen Föderation mehrere rechtswidrig geheim gehaltene Anweisungen aus den Innenbehörden vor. Nach Einschätzung führender Juristen und Menschenrechtsexperten sind diese Dokumente verfassungswidrig und widersprechen auf drastische Weise den internationalen Verpflichtungen der Russischen Föderation, da sie die Einrichtung von sog. "Filtrationspunkten" (gesetzlich nicht vorgesehenen Inhaftierungsorten) vorsehen und praktisch einen Einsatz von Gewalt und Waffen durch die Miliz sanktionieren, der das vom Gesetzgeber vorgesehene Maß deutlich übersteigt. Einige Bestimmungen dieser Dokumente lassen sich sogar derart interpretieren, dass sie die Angehörigen der Miliz zu außergerichtlichen Hinrichtungen und zum Einsatz von Kollektivstrafen animieren.

2. Der Kampf gegen den Terrorismus und die Menschenrechte. Die Wahrung der Menschenrechte als zentrales Element zur Gewährleistung von Sicherheit
Diese Frage ist für alle Länder von Bedeutung die antiterroristische Operationen durchführen und am globalen Kampf gegen den Terror beteiligt sind. Für unser Land ist diese Frage vor dem Hintergrund des fortwährenden Blutvergießens in Tschetschenien sowie der Terroranschläge in Russland besonders aktuell. Wir sind überzeugt, dass Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Menschrechte für Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit ein Unterpfand und keine Beeinträchtigung darstellen. Es ist nicht hinnehmbar, dass der Kampf gegen den Terrorismus als Rechtfertigung für massenhafte Menschenrechtsverletzungen dient. Eben dies geschieht aber Russland. Bei der antiterroristischen Operation im Nordkaukasus kommt es ständig zu Entführungen und Morden, es bestehen dort illegale Gefängnisse, die Festgenommenen und Haftgefangenen sind dort Folter ausgesetzt und bei den "Säuberungen" von Ortschaften kommt es permanent zu Morden und Plünderungen. Die Behörden schaffen im Gebiet der antiterroristischen Operation zielstrebig einen rechtsfreien Raum. Diese Art des Vorgehens der Sicherheitskräfte breitet sich vom Nordkaukasus über ganz Russland aus. Das Problem wird durch bereits vorgenommene oder vorgesehene Änderungen in der Gesetzgebung verschärft, die den internationalen Standards und der Verfassung der Russischen Föderation zuwiderlaufen. Wir sind der Ansicht, dass die europäischen Staaten - unser Land eingeschlossen - an einem offenen und aufrichtigen Dialog zu diesem ernsten Thema interessiert sein müssen. Bei einem solchen Dialog wäre es von Nutzen die Situation im Nordkaukasus, vor allem in der Tschetschenischen Republik (Russische Föderation), sowie die positiven und negativen Erfahrungen in Nordirland (Vereinigtes Königreich), im Baskenland (Spanien) und auf dem Balkan eingehend zu erörtern. In diesem Kontext wäre ein Austausch der Überlegungen zu einer veränderten Gesetzgebung, die die Befugnisse der Polizei- und Justizbehörden erweitert und fundamentale Rechte und Freiheiten einschränkt, überaus hilfreich. Hierzu zählt auch ein Austausch von - positiven wie negativen - Erfahrungen in Bezug auf unlängst eingeführte neue Gesetzesbestimmungen zum Kampf gegen den Terrorismus und zur Erhöhung der Sicherheit.

3. Wahrung der Wählerrechte
Angesichts der Tatsache, dass die Institution fairer und freier Wahlen ein Fundament für einen demokratischen Staat darstellen, ist dieses Thema von höchster Wichtigkeit. In Russland ist ein Abbau wichtiger Institutionen der Volksherrschaft zu beobachten. Das im Jahre 2004 verabschiedete Gesetz "Über die Volksabstimmung in der Russischen Föderation" schließt praktisch die Möglichkeit aus, dass eine Volksabstimmung auf Initiative von Bürgern oder oppositioneller Parteinen durchgeführt wird. Es verwandelt die Volksabstimmung in ein Instrument allein des herrschenden Regimes. Die Direktwahl der Gouverneure wurde abgeschafft. Der Präsident verfügt nun über das Recht, die Volksvertretungen in den Subjekten der Föderation aufzulösen und die seinerzeit von der Bevölkerung gewählten Oberhäupter der Föderationssubjekte ihres Amtes zu entheben. Die neuen Bestimmungen für die Wahlen zur Staatsduma legen fest, dass die Abgeordneten zukünftig ausschließlich über Parteilisten gewählt werden, wobei Wahlblöcke verboten sind und eine 7-Prozent-Hürde besteht. Zudem wurden für die bereits im Parlament vertretenen Parteien und für Parteien, die einen Einzug ins Parlament anstreben, ungleiche Wahlkampfbedingungen per Gesetz festgeschrieben. Das Oberhaus hingegen wird nicht von der Bevölkerung gewählt und besteht zur Hälfte aus Beamten, die von den Leitern der Exekutiven in den Subjekten der Russischen Föderation bestimmt werden. Das überaus wichtige Prinzip der Gewaltenteilung und der checks and balances wird auf diese Weise unterminiert. Unserer Ansicht nach sollte die Situation, die sich in unserem Land entwickelt hat, zum Gegenstand höchster Aufmerksamkeit in Rahmen des Dialoges zwischen Russland und der EU werden.

Nicht weniger wichtig und aktuell sind folgende Themen, die wir zur Aufnahme in die Tagesordnung zukünftiger Menschenrechtskonsultation vorschlagen.

1. Freiheit der Medien
Diese Freiheit ist eine grundlegende Voraussetzung für den Übergang zu einem demokratischen Aufbau von Staat und Gesellschaft. In der Russischen Föderation sind jedoch in den staatlichen oder vom Staat kontrollierten Fernsehkanälen alle Arten von Liveübertragung (mit Ausnahme von Sportsendungen), abgeschafft worden. Es fehlen dort freie, vollwertige politische Diskussionen, und es besteht ein zwar ungeschriebenes, jedoch unbeirrt befolgtes Verbot von Auftritten von oppositionellen Politikern und Bürgern mit abweichenden Überzeugungen sowie der Behandlung einer Reihe aktueller politischer Themen. Es werden informelle Treffen von Vertretern der Präsidentenadministration mit den Leitern der Fernsehkanäle abgehalten, auf denen die letzteren Anweisungen erhalten, wie und worüber berichtet oder nicht berichtet werden darf. In unserem Land fehlt die Institution des öffentlichen Fernsehens. Die Presse hat keinen gleichberechtigten Zugang zu den verschiedenen Formen staatlicher Subventionen. Die Zahl privater Zeitungen sinkt zu Gunsten staatlicher Zeitungen, die aus kommunalen, Gebiets- und städtischen Haushalten versorgt werden. Viele Zeitungen sehen sich unberechtigten und in der drohenden Strafsumme riesigen Klagen ausgesetzt, die zum Schutz von Ehre und Würde von Beamten angestrengt werden. Bei einer hörigen Gerichtsbarkeit werden solche Klagen zu einem Strick am Hals der Presse. Bis heute fehlt sowohl ein Gesetz über die Offenlegung von Informationen durch die Behörden als auch ein Gesetz über ein Zugangsrecht der Bürger zu Informationen.

2. Die Praxis politisch motivierter Verfolgung und das Problem der Unabhängigkeit des Gerichtssystems
Wir sind der Ansicht, dass außerrechtliche Bewertungen und Überlegungen im Bereich der Rechtsprechung prinzipiell nicht zugelassen werden können und dass in einem Gerichtsverfahren eine politische Motivation unausweichlich zu einer Verletzung der Rechte des Beschuldigten führt. Sowohl die Länder der Europäischen Union als auch die Russische Föderation müssen ein Interesse an der restlosen Beendigung einer solchen Praxis haben. In unserem Land sind dabei seit 2000 immer häufiger Gerichtsverfahren zu beobachten, die sich gegen Kritiker von Beamten oder staatlicher Behörden richten, bzw. gegen jene, die sich den Unwillen der Zentralregierung oder regionaler Regierungen zugezogen haben. Die Zahl der gesetzeswidrig Inhaftierten und zu unrecht Verurteilten, in deren Verfahren es eine politische Komponente gibt, wächst nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen beständig.
Ebenso bringen wir unsere große Besorgnis über die zunehmende Abhängigkeit der Rechtsprechung von der Exekutive zum Ausdruck, die sowohl durch die jüngsten Änderungen der Gesetzgebung als auch durch direkten Druck der Exekutive auf Berufs- und Schöffenrichter sowie in letzter Zeit auch auf Anwälte hervorgerufen wird.

3. Die Rechte von Armeeangehörigen und Zivildienstleistenden
Die Gewährleistung angemessener Bedingungen bei der Ableistung des Militärdienstes, die Schaffung einer wirksamen gesellschaftlichen Kontrolle, die Einbeziehung des internationalen humanitären Rechtes in die Vorschriften, die die Armeeangehörigen zu befolgen haben und ein zuverlässiger Schutz der Rechte von Armeeangehörigen müssen unabdingbare Komponenten im Modernisierungsprozess der Streitkräfte in der Russischen Föderation sein. Die Entfaltung einer derartigen Modernisierung in Russland würde den Sicherheitsinteressen sowohl unseres Landes als auch der Länder der Europäischen Union entsprechen.
In den vergangenen Jahren haben wir jedoch keinerlei nennenswerten Fortschritt in dieser Richtung beobachten können. Ganz im Gegenteil. Die Verbrechen, die in den Einheiten von Kommandeuren begangen werden, grausame Behandlung der Militärdienstpflichtigen, die Verletzungen der Menschenwürde, die Erpressung von Geld bei Soldaten und deren Familien, der Sklavenarbeit von Soldaten bei militärdienstfernen Tätigkeiten, die erzwungene Abkommandierung von Militärdienstleistenden in die Gebiete der militärischen Auseinandersetzung in Tschetschenien und vieles andere wird von den Behörden verheimlicht und bleibt in den meisten Fällen ungestraft.
Fälle von illegalem Handel mit Waffen und Munition sind kein Geheimnis. Eine objektive Untersuchung der Taten und eine gerechte Aufarbeitung vor Gericht wird durch den Korpsgeist der Offiziere, Militärstaatsanwälte und Militärrichter behindert.
Eine wirksame gesellschaftliche Kontrolle im Militärbereich wird durch das Fehlen der hierfür notwendigen Gesetzgebung erschwert. Die Zerrüttung der Streitkräfte stellt eine reale Bedrohung für die Sicherheit Russlands als auch der Länder der Europäischen Union dar.
Die Umsetzung des Rechts auf einen alternativen Zivildienst aus religiösen oder anderen Gründen in Russland ist ein weiteres wichtiges Problem. Nach Ansicht der NRO in der Russischen Föderation stellt das Anfang 2004 in Kraft getretene Gesetz über den alternativen Zivildienst durch die dort vorgeschriebene Dauer und die Bedingungen des Zivildienstes praktisch eine Bestrafung der Betroffenen für ihre Überzeugung dar. Die Institution des alternativen Zivildienstes in der Russischen Föderation basiert nach Einschätzung der VN und des Europarates nicht auf den international anerkannten Menschrechtsprinzipien und entspricht nicht den europäischen Standards. Zur Angleichung an diese Standards ist eine Revision des Gesetzes nötig.

4. Migration und Menschenrechte
Die Änderung des Status der ehemaligen Staatsangehörigen der UdSSR auf dem Gebiet der Russischen Föderation, die durch die Mitte 2002 in Kraft getretenen Gesetze "Über die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation", "Über den rechtlichen Status ausländischer Staatsangehöriger" erfolgte, hat Hunderttausende Bewohner der Russischen Föderation zu illegalen Migranten gemacht, die dadurch wesentliche soziale Rechte, das Recht auf Freizügigkeit und stellenweise - hieraus resultierend - das Recht auf Leben verloren haben.
Das System der Asylgewährung auf dem Gebiet der Russischen Föderation wurde praktisch aufgelöst. Das mit dieser Frage betraute Personal der Ministerien und Behörden blieb zahlenmäßig unverändert. Doch die Zahl der anerkannten Flüchtlinge hat sich von 290.000 im Jahre 1996 auf 500 im Jahre 2004 verringert. Die Russische Föderation weigert sich, die Last der Verantwortung für dieses Problem mit den Ländern der EU zu teilen und erfüllt also nicht ihre Verpflichtungen, die in der Flüchtlingskonvention der VN von 1951 festgelegt sind.

Gleichzeitig steht Russland bereits das zweite Jahr unter den Herkunftsländern von Asylsuchenden an erster Stelle. Ein großer Teil unserer Bürger, die im Ausland um Asyl nachsuchen, besteht aus Tschetschenen, die auf dem Gebiet der Russischen Föderation keine alternative Möglichkeit der Niederlassung erhalten. In Bezug auf diese Menschen erfüllt die Russische Föderation bereits mehrere Jahre nicht die von den VN verabschiedeten "Guiding Principles on Internal Displacement". Durch diese Nichteinhaltung wird den Ländern der Europäischen Union eine erhöhte Belastung aufgenötigt.

Ein gemeinsames Problem für Russland und die EU ist die Alterung der Bevölkerung und die demographische Krise. Es sind dies Probleme, die ohne eine ernsthafte Revision der Migrationspolitik nicht gelöst werden können.

5. Diskriminierung
Über die letzten Jahre sind in der Russischen Föderation Diskriminierung aus ethnischen Gründen und rassistisch motivierte Gewalt zu besonders akuten Problemen geworden. Das russische Rechtssystem verfügt über kein wirksames Instrumentarium zur Bekämpfung von Diskriminierung und Anstachelung zum Rassenhass. Wir müssen zu unserem Bedauern bei der Bekämpfung von Diskriminierung und rassistisch motivierter Gewalt ein praktisch gleichgültiges Verhalten der staatlichen Stellen aller Ebenen konstatieren. Besondere Besorgnis erregt dabei der Umstand, dass staatliche Stellen oft genug selbst Bürger mit bestimmten ethnischen Merkmalen diskriminieren, etwa Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens, Turko-Meschetinzen im Gebiet Krasnodar sowie Roma und Sinti, oder aber der Diskriminierung Vorschub leisten. Ein ernstes Problem stellt auch die diskriminierende Behandlung von ethnischen Minderheiten und Ausländern durch die Polizei- und Justizbehörden sowie die weit verbreitete Erstellung ethnisch definierter Fahndungsprofile durch die Miliz dar. Unserer Ansicht nach könnte ein Dialog der Europäischen Union mit der Regierung der Russischen Föderation weitere gewichtige Impulse für eine Korrektur der Politik in diesem Bereich mit sich bringen.

Gleichzeitig teilen wir die Besorgnis der Regierung der Russischen Föderation angesichts der Lage der ethnischen und sprachlichen Minderheiten in einigen Nachfolgestaaten der UdSSR. Insbesondere sind wir über die Situation der russischsprachigen Bevölkerung in Lettland und Estland beunruhigt. Ein Dialog zwischen der EU und der Russischen Föderation zu diesen Problemen in den Mitgliedsstaaten der EU könnte die Suche nach konstruktiven Lösungen erleichtern und die Erörterung dieser Frage von der politischen Ebene auf die Ebene pragmatischer Zusammenarbeit verlagern. Wir bringen unsere Überzeugung zum Ausdruck, dass ein Fortschritt in diesem Bereich auch auf die Menschenrechtssituation in der Russischen Föderation eine positive Wirkung haben kann.
Wir möchten nochmals betonen, dass ein Dialog zwischen Russland und der Europäischen Union zu den Menschenrechten nur dann eine positive Wirkung in unserem Land haben kann, wenn im Zentrum des Dialoges die offene Erörterung der jeweils drängendsten und schwierigsten Probleme steht, und wenn die Diskussion nicht aus dem öffentlichen Raum herausverlagert wird.
Im Laufe unserer Gespräche mit Vertretern der europäischen Regierungen haben wir mehrfach die Versicherung vernommen, dass unsere Besorgnis hinsichtlich der Menschenrechtsprobleme in Russland auch in den Hauptstädten der EU geteilt wird. Unserer Meinung nach stellen jedoch die übermäßigen Befürchtungen europäischer Politiker, dass ein offenes Gespräch mit den russischen Partnern über Menschenrechtsprobleme eine empfindliche Reaktion der russischen Führung hervorrufen und zu deren Rückzug aus dem Dialog führen könnte, ein ernstes Hindernis für die Lösung der Probleme dar.
Diese Haltung scheint uns ein Irrweg zu sein. Wir rufen keinesfalls zu einem neuen containment unseres Landes im Geiste des Kalten Krieges auf. Eine Isolierung Russlands bedeutete tatsächlich eine große Gefahr und könnte zu einem Anwachsen von Nationalismus, Militarismus, imperialen Ambitionen und dem endgültigen Abbau von Demokratie und Menschenrechten führen. Ein klarer Verstand kann nicht zu einer Isolierung Russlands aufrufen. Ein dualistischer, schwarz-weiß strukturierter Ansatz von "entweder Dialog oder Isolation" scheint uns der falsche zu sein. Der Dialog kann und darf sich nicht in den bereits zum Ritual gewordenen Beschwörungen einer strategischen Partnerschaft und der Bedeutung des Zusammenstehens gegenüber gemeinsamen Bedrohungen erschöpfen, sondern muss auch in einem offenen sachlichen Gespräch über ernste Probleme des Innenlebens der Partner und in einer gemeinsamen Suche von Lösungen bestehen. Partner haben das Privileg, offen miteinander reden und eine ausführliche und ehrliche Antwort erwarten zu können, ebenso wie eine Erörterung der Wege zur gemeinsamen Überwachung der getroffenen Entscheidungen.

Wir sind überzeugt, dass ein solches offenes Gespräch über Menschenrechtsfragen und gerade die Suche nach gemeinsamen Lösungen im Interesse Russlands und der EU liegen. Die Europäische Union und die Russische Föderation sind Nachbarn mit gemeinsamen Grenzen und jedes Problem im Bereich der Menschenrechte in Russland hat auch seine Auswirkung auf das Leben innerhalb der EU. Daher sind wir der Ansicht, dass ein Fortschritt bei den Menschenrechtskonsultationen zwischen Russland und der EU auch ein Fortschreiten des allgemeinen Verhandlungsprozesses zu den vier "gemeinsamen Räumen" - in den Bereichen Wirtschaft, Sicherheit, Visaregelungen, Kultur und Wissenschaft - mit sich bringen wird, und damit eine Fortführung und Weiterentwicklung der bereits 1975 in der Schlussakte von Helsinki begründeten Prinzipien des untrennbaren Zusammenhangs von Sicherheit und Menschenrechten wie auch des Grundsatzes, dass Menschenrechtsfragen nicht allein "innere Angelegenheit" des jeweiligen Staates sind.

Wir hoffen, dass sich unsere Vorschläge für Sie als konstruktiv erweisen und bei der Vorbereitung der im Herbst 2005 anstehenden Konsultationsrunde berücksichtigt werden. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft bei der Vorbereitung und Führung dieses Dialoges wird diesem zu mehr Offenheit und Ergebnissen verhelfen sowie zur Stärkung und Entwicklung der Werte von Demokratie und Menschenrechten auf dem gesamten europäischen Kontinent beitragen.

Unterzeichnende:

Russische Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge MEMORIAL,
S. A. Kowaljow, Vorsitzender

Menschenrechtszentrum MEMORIAL,
O. P. Orlow, Ratsvorsitzender

Verband der Komitees der Soldatenmütter,
V. D. Melnikowa, Verantwortliche Sekretärin

Moskauer Helsinki-Gruppe,
L. M. Alexejewa, Vorsitzende

Allrussische Bewegung "Für die Menschenrechte",
L. A. Ponomarjow, Geschäftsführer

Zentrum DEMOS,
T. I. Lokschina, Vorstandsvorsitzende

Zentrum zur Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten,
Ju. D. Dshibladse, Präsident

Komitee BÜRGERBETEILIGUNG,
S. A. Gannuschkina, Vorsitzende

Stiftung zur Verteidigung von Glasnost,
A. K. Simonow, Präsident


und 77 weitere Unterschriften von VertreterInnen russischer Menschenrechtsorganisationen.





Übersetzung: Hartmut Schröder

Quelle: russisches Nachrichtenportal von MEMORIAL: http://www.memo.ru/hr/news/5russiaeuhr.htm
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