Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde von Memorial!


In Petersburg häufen sich gewaltsame Übergriffe auf Mitarbeiter und
Einrichtungen der Nichtregierungsorganisation MEMORIAL. Von
Untersuchungsbehörden wird zumeist "Rowdytum" als Tatmotiv angegeben, die
Täter selbst nur selten gefunden bzw. rechtskräftig verurteilt. Dass die
eigentlichen Hintergründe dieser Gewaltakte jedoch politischer Natur sind
und die Täter der neonazistischen Szene entstammen, wird jedoch allzu häufig
verschwiegen.

Der jüngste Überfall fand auf das Wissenschaftliche Informationszentrum
MEMORIAL in St. Petersburg (uliza Rubinstejna, 23) in der Nacht auf den
19.02.2005 statt: 3 Unbekannte geben sich als Kollegen von MEMORIAL Moskau
aus und schlagen nach Öffnen der Tür den Mitarbeiter Emmanuil Lazarewitsch
Poljakow brutal zusammen. Der 59-jährige Übersetzer erleidet eine
Gehirnerschütterung und liegt seitdem mit Kiefer- und Knochenbrüchen im
Krankenhaus. Ob er aufgrund starker Augenverletzungen seine volle
Sehfähigkeit wieder zurück erhält, wird von einer dringend notwendigen
Operation abhängen.

Über die Herkunft der Täter kann noch keine genaue Aussage getroffen werden.
Das Büro wurde nicht ziellos verwüstet, vielmehr gezielt durchsucht und
ausgeraubt: aus einer großen Anzahl von Ordnern wurden zwei mit der
Aufschrift "Neonazismus" und "Chodorkowskij" durchwühlt. Entwendet wurden
keine Computer, kein Geld, sondern transportable Geräte wie ein
Multimedia-Projektor, Kopierer, Kommunikationstechnik etc. Die Polizei geht
- wie bereits bei früheren Überfällen - von "Rowdytum" als Tatmotiv aus.
Gerade aber die Wiederholung derartiger Überfälle lassen politische Gründe
für diese Gewalttaten immer realistischer erscheinen, zumal MEMORIAL St.
Petersburg seit Jahren Projekte zu Antirassismus und Neonazismus durchführt
sowie mit öffentlichen Aktionen und Publikationen für eine politische Lösung
des Tschetschenienkonfliktes eintritt:

14.08.2003:
2 Männer überfallen das Büro von MEMORIAL St. Petersburg (uliza Rasjeshaja,
9) und fesseln die anwesenden Mitarbeiter - darunter den Geschäftsführer
Wladimir Schnitke. Entwendet werden weder Geld noch Wertgegenstände, sondern
ausschließlich Computer mit entsprechenden Daten. Die polizeilichen
Untersuchungen verlaufen erfolglos, als Tatmotiv wird "Rowdytum" angegeben.
Nur durch Hilfe einer privat engagierten Detektei wird einer der Täter
ausfindig gemacht: Vladimir Goljakov, der sich als Führer einer
heidnisch-nazistischen Sekte ausgibt. Goljakov wird am 18.06.2004 zu 5
Jahren Haft verurteilt. Einen Tag später ereignet sich die Ermordung des
Wissenschaftlers und MEMORIAL-Mitglieds Nikolaj Girenko.

19.06.2004:
Nikolaj Girenko - Wissenschaftler des St. Petersburger Museums für
Ethnografie und Anthropologie und langjähriges Mitglied von MEMORIAL - wird
durch seine Wohnungstür hindurch erschossen. Girenko hatte vor Jahren
bereits eine Methode entwickelt, mit der ethnisch motivierte Gewalttaten von
"gewöhnlichen" Delikten unterschieden werden können. Rassistische
Gewalttaten wurden bis dahin aufgrund fehlender wissenschaftlicher Kriterien
zumeist nur als "Rowdytum" eingestuft. Girenko hat ferner zahlreiche
Gutachten über neonazistische Gruppierungen erstellt, die bei der
Verurteilung von Tätern aus der rechten Szene von Bedeutung waren. Die
Staatsanwaltschaft wollte auch in diesem Mordfall "Rowdytum" als Tatmotiv
nicht ausschließen, bis kurz nach dem Mord eine Gruppe namens "Russische
Republik" ein so genanntes Todesurteil gegen Girenko veröffentlichte, der
als "Feind des russischen Volkes" verurteilt worden sei. Girenko, so der
Vorwurf, habe dabei geholfen, "russische Patrioten" zu inhaftieren.

11.12.2004:
Vor seiner Wohnungstür wird Wladimir Schnitke, Geschäftsführer von MEMORIAL
St. Petersburg, von hinten auf den Kopf geschlagen und bricht bewusstlos
zusammen (bereits vor 1 1/2 Jahren wurde er im MEMORIAL-Büro überfallen). Aus
seiner Tasche werden Computer und Notizbuch entwendet, Geld und Mobiltelefon
hingegen werden nicht geraubt. Schnitke wird mit schwerer
Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert.


MEMORIAL Deutschland bewertet mit großer Besorgnis die zunehmenden Angriffe
auf seine Partnerorganisationen in Russland, die sich für die Wahrung von
Menschenrechten in aktuellen Krisenzonen, den Schutz von Minderheiten
innerhalb der russischen Gesellschaft und die Aufarbeitung totalitärer
Vergangenheit einsetzen.

Kurz nach dem jüngsten Überfall auf das Wissenschaftliche
Informationszentrum MEMORIAL besuchten wir unsere Petersburger Kollegen. Sie
bewerten die Überfälle als massive Bedrohung und Versuch der
Einschüchterung. Ihre Arbeit an den unterschiedlichen Projekten von MEMORIAL
werden sie trotzdem fortsetzen. Mit großer Besorgnis sprechen sie von Ihrem
Kollegen Emmanuil Poljakow, dem 59-jährigen Übersetzer, der nun mit schweren
Verletzungen im Krankenhaus liegt. Eine Augenoperation ist dringend
notwendig, um eine Erblindung zu verhindern. Für eine solche Operation
einschließlich einer möglicherweise langen Nachversorgung werden
entsprechende finanzielle Mittel benötigt, die momentan weder das Opfer
selbst noch das Wissenschaftliche Informationszentrum von MEMORIAL besitzen.
Wir bitten Sie dringend darum, mit einer Spende dazu beizutragen, diese
notwendige medizinische Behandlung zu ermöglichen:

MEMORIAL Deutschland e.V.
Bank für Sozialwirtschaft Berlin
BLZ: 100 205 00
Konto-Nr.: 33200 00
Stichwort: Emmanuil Poljakow

Bitte berichten Sie auch in Ihrem Umkreis von diesen Vorfällen. Wir danken
Ihnen für Ihre Unterstützung!


Sebastian Prieß, für den Vorstand Memorial Deutschland e.V. (Berlin)

Anna Schor-Tchoudnovskaia, Memorial Deutschland e.V. (Frankfurt a.M.)
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